18. September 2015 – Gedenkdemonstration Pavlos Fyssas

Ein Teil unserer Gruppe machte sich, per Bus, Metro oder Taxi auf den Weg nach Keratsini, einem Ortsteil von Piräus, wo vor genau zwei Jahren, am 18.09.2013 Pavlos Fyssas von den Nazis der „Goldenen Morgenröte“ ermordet wurde. Wir waren zweimal mit unserer Reisegruppe dort. Wir berichteten im Reisetagebuch 2013 und Reisetagebuch 2014.

Diesmal wollten wir uns der Demo zum Gedenken an Pavlos Fyssas anschließen. Die Auftaktkundgebung begann an der Stelle, in der P.Tsaladari 60, wo er ermordet wurde. Dort steht heute ein Gedenkstein. Wir trafen uns mit einigen Menschen aus der Stadtteilinitiative in Perama, die wir schon mehrmals besuchten und auch nach Berlin eingeladen hatten.

Es waren etwa 1.000 Leute auf der Demo. Was auffiel, waren die vielen Jugendlichen, ganz junge Leute, Anarchisten und organisierte Gruppen der radikalen Linken, die in Blöcken liefen. Viele Jugendliche hatten Tücher vor dem Gesicht. Einige hatten Stöcke, später flogen Steine, in einem Café wurden Stühle umgestürzt.

An der Demospitze gab es Diskussionen darüber, wer wo mitläuft; die Gruppen sind untereinander zerstritten. Wer da gegen wen kämpft, das erschloss sich uns allerdings nicht. Die Gruppen riefen Parolen wie: „Nie wieder Faschismus, Pavlos Fyssas soll leben, schlagt die Faschisten, gegen Faschismus und Imperialismus…“

Wir haben uns z. T. unter die Demonstranten gemischt, uns den Demozug angesehen oder sind ganz hinten mit unserem Transparent mitgelaufen – zur eigenen Sicherheit. Gegen Ende der Demo warf die Polizei Tränengaspatronen in den Demozug. Eine von uns hat es erwischt –mit viel Wasser kämpfte sie noch eine ganze Weile gegen das Tränengas an.

Wir sahen einige ausgebrannte Müll-Container; ein Supermarkt wurde „entglast“ und aus einem Vodaphone-Shop qualmte es.

Trotz der Steine, die flogen und der brennenden Container – es war keine kraftvolle Demo. Mir schien das eher wie ein Ritual und ich fand es schade, dass nur so wenige Menschen auf der Demo waren. Sicher, es war nicht die einzige Veranstaltung zum Gedenken an Pavlos Fyssas, aber ich hatte mehr erwartet. Die Menschen, die am Rand standen und sich das Spektakel ansahen, AnwohnerInnen, Angestellte und die InhaberInnen der kleinen Läden und Cafés, wollten sich nicht zur Demo äußern. Aber alle, die ich gefragt habe, wussten, warum beziehungsweise wogegen demonstriert wurde.
Einige von uns sind anschließend mit dem Taxi nach Piräus gefahren, denn es fuhren keine Busse. Der Taxifahrer blieb völlig gelassen und umkurvte einfach an die brennenden Container, die auf der Fahrbahn lagen. Er wählt SYRIZA, weil er den Euro behalten will. Sein Geschäft läuft gut, trotz der Krise. Seine Fahrgäste sind sowohl Touristen als auch Einheimische.

Brian

Der Besuch im Parlament

Zoe Konstantopoulou in Exarchia mit den Solidaritätsreisegruppe. Foto: Giovanni Lo Curto

Zoe Konstantopoulou in Exarchia mit den Solidaritätsreisegruppe.
Foto: Giovanni Lo Curto

Mittwoch, 23.09.2015

Nach dem Treffen mit den Basisgewerkschaften gingen wir am Dienstagabend
gemeinsam zum Essen in eine Taverne im Stadtteil „Exarchia“. Der Zufall wollte es, dass sich Zoe Konstantopoulou, die unerschrockene Parlamentspräsidentin, ebenfalls dort aufhielt.

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Jemand muss ihr von unserer Solidaritätsreise erzählt haben. Denn auf einmal hiess es, auf einer Pressekonferenz im griechischen Parlament werde morgen der Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands erläutert. Und nun soll eine Delegation von uns daran teilnehmen und angeblich kurz unsere Reisegruppe vorstellen. Andi hatte keine Lust, ins Parlament zu gehen, und sagte zu uns: „Macht ihr das!“ Eine Liste mit unseren Namen wurde übergeben, damit wir am nächsten Tag beim Eingang identifiziert und hereingelassen werden können.

Zoe Konstantopoulou. Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands. Foto: Giovanni Lo Curto

Zoe Konstantopoulou. Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands.
Foto: Giovanni Lo Curto

Als ich um die Mittagszeit vor dem Parlamentsgebäude auf Ulrike und Brian warte, stehen dort scharenweise Touristen und fotografieren die folkloristisch anmutende Wachablösung am Grab des unbekannten Soldaten. Schlagartig wird mir bewusst, in welch privilegierter Stellung unsere Reisegruppe ist. Während die allermeisten sich mit dem Betrachten der Parlamentskulisse begnügen müssen, werden wir in Kürze die wohl einmalige Gelegenheit haben, einen Blick dahinter zu werfen und – obgleich nur als Zuschauende – an einer wichtigen Auseinandersetzung der griechischen Politik teilzuhaben.

Der Eingang zum Parlament befindet sich an einer Stirnseite des Gebäudes und ist gut bewacht. Es ist dasselbe Prozedere wie bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Anschliessend werden wir von einem der Sicherheitsleute ins Innere der heiligen Hallen begleitet. Allerdings nicht ohne zuvor eine weitere Kontrolle durchstehen zu müssen, bei der der Reisepass eingezogen wird und alle ein Ansteckschild erhalten, das sie als rechtmässige Besucher_innen ausweist.

Die Konferenz wird in einem Nebensaal des Parlamentes abgehalten. Die
Ausstattung ist dieselbe, samt Fernsehkameras, die das Geschehen von allen Seiten filmen. Zoe Konstantopoulou eröffnet die Veranstaltung, die sich schnell einmal als öffentliche Tagung der Wahrheitskommission entpuppt, die aus hochkarätigen Wissenschaftlern verschiedener Länder zusammengesetzt ist, darunter Eric Toussaint, Dozent an den Universitäten Lüttich und Paris VIII und Vorsitzender des Komitees zur Streichung der Schulden der Dritten Welt.

Ulrike, Rainer und Brian Delegation reisegruppe. Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands. Foto: Giovanni Lo Curto

Ulrike, Rainer und Brian Delegation reisegruppe.
Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands.
Foto: Giovanni Lo Curto

Simultanübersetzungen gibt es auf Griechisch, Englisch und Französisch. Wer keiner dieser Sprachen mächtig ist, hat das Nachsehen. Ich versuche, den Vorträgen auf Französisch zu folgen. Die Übersetzung ist jedoch bestenfalls mittelmässig, so dass mir oft der Zusammenhang entgeht. Das ist sehr schade, denn die Ausführungen von Zoe Konstantopoulou über den bisherigen Verlauf der Wahrheitskommission und über die Steine, die ihr in den Weg gelegt werden, sind – soweit ich es verstanden habe – sehr brisant. Auch nach ihrer faktischen Absetzung als Parlamentspräsidentin (zu einer von ihr im August einberufenen Sitzung erschienen nur ganz wenige Abgeordnete) nahm sie ihre Funktion weiterhin wahr und reiste anfangs September, als das griechische Parlament bereits aufgelöst war, nach New York, um an der 4. Weltkonferenz der Parlamentsvorsitzenden zu sprechen. Ihre auf Englisch gehaltene Rede ist auf YouTube dokumentiert: www.youtube.com/watch?v=oiTvwZKyuoY (oder kann hier nachgelesen werden: http://cadtm.org/Zoe-Konstantopoulou-s-speech-at).

Dort findet man übrigens auf dem TV-Kanal des hellenischen Parlamentes auch die gesamte Tagung der Wahrheitskommission (www.youtube.com/watch?v=_l1NVaT08fQ), allerdings nur in griechischer Sprache.

Im Laufe des Nachmittags kommt auf einmal Giannis Stathas, der kämpferische
Aluminium-Arbeiter aus Distomo, herein. Als er uns erkennt, grüsst er erfreut mit erhobener Faust quer durch den Saal und setzt sich anschliessend zu uns hin. Im Juli 2012, beim überraschenden Wahlerfolg von Syriza, wurde er als einziger Industriearbeiter ins Parlament gewählt. Da er sich der „Laiki Enotita“ angeschlossen hat, ist er nun sein Abgeordnetenmandat losgeworden. Ob er darüber unglücklich ist? Danach fragen konnte ich ihn nicht, doch ich erinnere mich, wie er uns im Mai 2013 in Berlin erzählte, seit er im Parlament sitze, habe er zum ersten Mal Magenprobleme. Später einmal machte er klar, was ihm Magenschmerzen bereitete: „Früher glaubte ich immer, der Feind stehe gegenüber. Nun musste ich feststellen, dass er auch neben mir sitzt.“ Das war zu einem Zeitpunkt, lange bevor Syriza Regierungspartei wurde.

parlament5Nur nebenbei sei erwähnt, dass wir keine Gelegenheit bekommen haben, der Wahrheitskommission unsere Reisegruppe vorzustellen. Das war wohl ein Missverständnis, das ich sehr bald als solches vermutete, obwohl wir das beklemmende Gefühl nie ganz los wurden, wir könnten vielleicht doch noch aufgerufen werden, um dann auf Griechisch, Englisch oder Französisch unsere Stellungnahme abzugeben. Glücklicherweise blieb uns das erspart.

Um halb fünf, nachdem unsere Aufnahmefähigkeit merklich nachgelassen hatte, beschlossen Ulrike und ich, den Saal zu verlassen. Brian musste bereits vorher weg. Er hatte die Fahrkarten, mit denen ein Teil der Reisegruppe mit dem 16 Uhr-Zug nach Thessaloniki fuhr.

(Rainer)