Der Besuch im Parlament

Zoe Konstantopoulou in Exarchia mit den Solidaritätsreisegruppe. Foto: Giovanni Lo Curto

Zoe Konstantopoulou in Exarchia mit den Solidaritätsreisegruppe.
Foto: Giovanni Lo Curto

Mittwoch, 23.09.2015

Nach dem Treffen mit den Basisgewerkschaften gingen wir am Dienstagabend
gemeinsam zum Essen in eine Taverne im Stadtteil „Exarchia“. Der Zufall wollte es, dass sich Zoe Konstantopoulou, die unerschrockene Parlamentspräsidentin, ebenfalls dort aufhielt.

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Jemand muss ihr von unserer Solidaritätsreise erzählt haben. Denn auf einmal hiess es, auf einer Pressekonferenz im griechischen Parlament werde morgen der Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands erläutert. Und nun soll eine Delegation von uns daran teilnehmen und angeblich kurz unsere Reisegruppe vorstellen. Andi hatte keine Lust, ins Parlament zu gehen, und sagte zu uns: „Macht ihr das!“ Eine Liste mit unseren Namen wurde übergeben, damit wir am nächsten Tag beim Eingang identifiziert und hereingelassen werden können.

Zoe Konstantopoulou. Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands. Foto: Giovanni Lo Curto

Zoe Konstantopoulou. Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands.
Foto: Giovanni Lo Curto

Als ich um die Mittagszeit vor dem Parlamentsgebäude auf Ulrike und Brian warte, stehen dort scharenweise Touristen und fotografieren die folkloristisch anmutende Wachablösung am Grab des unbekannten Soldaten. Schlagartig wird mir bewusst, in welch privilegierter Stellung unsere Reisegruppe ist. Während die allermeisten sich mit dem Betrachten der Parlamentskulisse begnügen müssen, werden wir in Kürze die wohl einmalige Gelegenheit haben, einen Blick dahinter zu werfen und – obgleich nur als Zuschauende – an einer wichtigen Auseinandersetzung der griechischen Politik teilzuhaben.

Der Eingang zum Parlament befindet sich an einer Stirnseite des Gebäudes und ist gut bewacht. Es ist dasselbe Prozedere wie bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Anschliessend werden wir von einem der Sicherheitsleute ins Innere der heiligen Hallen begleitet. Allerdings nicht ohne zuvor eine weitere Kontrolle durchstehen zu müssen, bei der der Reisepass eingezogen wird und alle ein Ansteckschild erhalten, das sie als rechtmässige Besucher_innen ausweist.

Die Konferenz wird in einem Nebensaal des Parlamentes abgehalten. Die
Ausstattung ist dieselbe, samt Fernsehkameras, die das Geschehen von allen Seiten filmen. Zoe Konstantopoulou eröffnet die Veranstaltung, die sich schnell einmal als öffentliche Tagung der Wahrheitskommission entpuppt, die aus hochkarätigen Wissenschaftlern verschiedener Länder zusammengesetzt ist, darunter Eric Toussaint, Dozent an den Universitäten Lüttich und Paris VIII und Vorsitzender des Komitees zur Streichung der Schulden der Dritten Welt.

Ulrike, Rainer und Brian Delegation reisegruppe. Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands. Foto: Giovanni Lo Curto

Ulrike, Rainer und Brian Delegation reisegruppe.
Bericht der Wahrheitskommission über die öffentlichen Schulden Griechenlands.
Foto: Giovanni Lo Curto

Simultanübersetzungen gibt es auf Griechisch, Englisch und Französisch. Wer keiner dieser Sprachen mächtig ist, hat das Nachsehen. Ich versuche, den Vorträgen auf Französisch zu folgen. Die Übersetzung ist jedoch bestenfalls mittelmässig, so dass mir oft der Zusammenhang entgeht. Das ist sehr schade, denn die Ausführungen von Zoe Konstantopoulou über den bisherigen Verlauf der Wahrheitskommission und über die Steine, die ihr in den Weg gelegt werden, sind – soweit ich es verstanden habe – sehr brisant. Auch nach ihrer faktischen Absetzung als Parlamentspräsidentin (zu einer von ihr im August einberufenen Sitzung erschienen nur ganz wenige Abgeordnete) nahm sie ihre Funktion weiterhin wahr und reiste anfangs September, als das griechische Parlament bereits aufgelöst war, nach New York, um an der 4. Weltkonferenz der Parlamentsvorsitzenden zu sprechen. Ihre auf Englisch gehaltene Rede ist auf YouTube dokumentiert: www.youtube.com/watch?v=oiTvwZKyuoY (oder kann hier nachgelesen werden: http://cadtm.org/Zoe-Konstantopoulou-s-speech-at).

Dort findet man übrigens auf dem TV-Kanal des hellenischen Parlamentes auch die gesamte Tagung der Wahrheitskommission (www.youtube.com/watch?v=_l1NVaT08fQ), allerdings nur in griechischer Sprache.

Im Laufe des Nachmittags kommt auf einmal Giannis Stathas, der kämpferische
Aluminium-Arbeiter aus Distomo, herein. Als er uns erkennt, grüsst er erfreut mit erhobener Faust quer durch den Saal und setzt sich anschliessend zu uns hin. Im Juli 2012, beim überraschenden Wahlerfolg von Syriza, wurde er als einziger Industriearbeiter ins Parlament gewählt. Da er sich der „Laiki Enotita“ angeschlossen hat, ist er nun sein Abgeordnetenmandat losgeworden. Ob er darüber unglücklich ist? Danach fragen konnte ich ihn nicht, doch ich erinnere mich, wie er uns im Mai 2013 in Berlin erzählte, seit er im Parlament sitze, habe er zum ersten Mal Magenprobleme. Später einmal machte er klar, was ihm Magenschmerzen bereitete: „Früher glaubte ich immer, der Feind stehe gegenüber. Nun musste ich feststellen, dass er auch neben mir sitzt.“ Das war zu einem Zeitpunkt, lange bevor Syriza Regierungspartei wurde.

parlament5Nur nebenbei sei erwähnt, dass wir keine Gelegenheit bekommen haben, der Wahrheitskommission unsere Reisegruppe vorzustellen. Das war wohl ein Missverständnis, das ich sehr bald als solches vermutete, obwohl wir das beklemmende Gefühl nie ganz los wurden, wir könnten vielleicht doch noch aufgerufen werden, um dann auf Griechisch, Englisch oder Französisch unsere Stellungnahme abzugeben. Glücklicherweise blieb uns das erspart.

Um halb fünf, nachdem unsere Aufnahmefähigkeit merklich nachgelassen hatte, beschlossen Ulrike und ich, den Saal zu verlassen. Brian musste bereits vorher weg. Er hatte die Fahrkarten, mit denen ein Teil der Reisegruppe mit dem 16 Uhr-Zug nach Thessaloniki fuhr.

(Rainer)