Die Sozialklinik Helliniko

Dienstag 22.9.2015, Athen

Am Nachmittag konnten 3 Teilnehmende der Griechenlandsolireisegruppe
glücklicherweise im Bus der Gruppe aus dem Kreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung zur Sozial- oder ehrenamtlichen Stadtteilklinik Helliniko im gleichnamigen Athener Aussenbezirk in Hafennähe mitfahren.

Vom Klinikpersonal, das die interessierten und solidarischen Gäste trotz regelmäßiger Anrufe sehr freundlich und auskunftsbereit – und mit erfrischendem Wasser – empfing, erläuterte unter anderem Ioanna, dass das Sozialklinikprojekt eines von bereits 40 dieser Art in Griechenland ist, nachdem das erste auf Kreta gestartet wurde. Hintergrund dieser Projekte sind auch hier sowohl das unzureichende Gesundheits- und Sozialstem, aus dem Arbeitslose herausfallen und der Druck der Memoranden der Troika.

Während der Anteil des Gesundheitssystems an den öffentlichen Ausgaben in Deutschland, so Ioanna, bei 7 Prozent liege und in Griechenland bei 5 Prozent, verlangten die Memoranden, dass Griechenland den Anteil weiter auf 4 Prozent runter drücke. Daher versteht sich die Klinik auch als Ort des Widerstands („center of resistence“) und beteiligt sich auch, soweit möglich, an Protesten gegen Sparmaßnahmen und auch für Flüchtlinge.

Helliniko geht auf eine Initiative von 6 Menschen aus dem Frühjahr 2011 – kurz vor Beginn der Syntagmaproteste – zurück, deren Anliegen am besten mit den Worten von Mikis Theodorakis beschrieben werden kann:

„Kein_e Griech_in soll Hunger leiden und kein_e Griech_in soll von ärztlicher Versorgung ausgeschlossen sein.“

Die Klinik behandelt mittlerweile 100 Personen am Tag – „einhundert traurige Geschichten“. 250 Ehrenamtliche beteiligen sich mittlerweile daran, jede_r opfert dafür jede Woche ein paar Stunden ihrer/seiner Freizeit, um zur Mission der Klinik beizutragen.

Die Grundsätze dabei – im Sinne von Transparenz und ausschließlicher Orientierung an den Patient_innen – sind:

  1. Keine Annahme von Geld, nur von Medikamentenspenden.
  2. Unabhängigkeit von Parteien und Verbänden.
  3. Keine Werbung, d.h. es dürfen auch keine Spendenden mit ihren Spenden für sich selbst Werbung machen.

Die Ärzt_innen der Klinik verabreichen Arbeitslosen und sonstigen aus dem viel zu begrenzten Gesundheits- und Sozialsystem herausgefallenen Bedürftigen Medikamente, die gespendet werden, oder lotsen sie bei weiterem Therapiebedarf zu anderen spezielleren Kliniken, mit denen sie kooperieren. Denn für intensivere Behandlungen oder Operationen, auch für Schwangerschaftsabbrüche fehlt die technische Logistik – was aber nach Angaben des Personals an der allgemeinen Ressourcenlage liegt und nicht am Einfluss klerikalkonservativer Kräfte in Griechenland. Grundsätzlich engagieren sich aber Ärtzt_innen aus vielen oder allen Fachrichtungen in den jeweils spezialisierten Behandlungsräumen. Dazu wird aber auch Babynahrung gesammelt, denn viele (Klein-)Kinder leiden krisenbedingt an Ernährungsmangelerscheinungen.

Das Sortiment an Arzneien in den Lagerräumlichkeiten wirkt sehr umfangreich und professionell systematisch zusammen gestellt.

Der Bekanntheitsgrad der Klinik und anderer Sozialkliniken ist bereits recht gut, sodass auch regelmässig Medikamente eintreffen und vielen Menschen geholfen werden kann.

Aber da der große Wunsch der Klinik, in Zukunft nicht mehr gebraucht zu werden, vorerst nicht erfüllt werden dürfte, wird sie auch weiterhin auf Medikamentenspenden angewiesen sein, die am besten aus griechischen Apotheken besorgt werden.

Weitere Informationen:
www.mkiellinikou.org/en/presentation-of-clinic/
@MKIEllinikou
Telephone : +30-210-9631-950

(Jan B.)

Zweiter Besuch in Perama

Montag, 21.09.2015, Perama, bei Piräus/Athen

Perama ist ein Werftarbeiter-Stadtteil westlich des grüßten griechischen Hafens von Piraeus. Dort arbeiteten früher 10.000 Menschen auf den Werften, heute sind es nur etwa 100. Auch diese Arbeiter_innen haben keine festen Arbeitsverträge. In den vergangenen Jahrzehnten war Perama eine Hochburg der kommunistischen KKE. Sie war in den Werften gut verankert. Heute ist in Perama Syriza die stärkste Kraft, fast gleich stark ist allerdings die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“.
Perama
Im Anschluss an eine gewaltsam aufgelöste Versammlung auf dem Syntagmaplatz 2011 gründeten die beteiligten Aktivisten aus dem Stadtteil Perama die Initiative zur offenen Volksversammlung. An den Volksversammlungen, die aktuell an jedem Montag in Perama stattfinden, nehmen zwischen 30 und 50 Menschen, manchmal sogar 100 bis 150 der 25.000 Einwohner teil. Bei diesen Volksversammlungen geht es um Eigenaktivitäten der Betroffenen, um in der Krise Verbesserungen ihrer Lebenssituation zu erreichen. Es gibt in Griechenland ein großes Netz ähnlicher Strukturen. Auf den Volksversammlungen darf jeder sprechen,, sofern es sich nicht um rassistische, faschistische oder sexistische Aeusserungen handelt. Jeder hat ein gleiches Rederecht, unabhängig von der Häufigkeit der Teilnahme – alle sind in den Volksversammlungen gleichberechtigt.

Basis für eine funktionierende Demokratie aus Sicht der Aktiven:

  • freie Kommunikation/Redefreiheit
  • Existenz von Parteien mit Programmen und Ideen
  • Existenz mündiger Bürger, die selbst denken und handeln

Beispiele politischer Aktionen/Forderungen:
1. Durch die prekäre Lage der EinwohnerInnen wurde bei säumigen
Zahlern vom Energieanbieter der Strom abgestellt. Dabei spielte eine Rolle, dass die griechische Regierung bei der Neueinführung einer Grundstückssteuer sich des Energieanbieters als Inkassounternehmen bediente.

2. In einer kollektiven Aktion wurde die Sperre von Stromzufuhr von den Betroffenen überbrückt und die Menschen erhielten wieder Energielieferungen.

3. Viele EinwohnerInnen haben Eigentum (Eigentumswohnungen), deren Hypotheken sie abbezahlen. Das ist ihnen bei langer Arbeitslosigkeit nicht möglich. Es kommt vor, dass Wohnungen mit einem Wert von bsw. 80.000 Euro für 20.000 Euro zwangsversteigert werden. Durch verschiedene Aktionen wurde Druck auf das Gericht ausgeübt, mit dem Ergebnis, dass Zwangsversteigerungen eingestellt wurden.

4. Kostenloser ÖPNV (öffentlicher Personennahverkehr) im Großraum Athen

5. Strom und Wasser muss Allgemeingut bleiben – örtliche Versorger müssen in staatlicher Hand sein.

6. Stromschulden werden im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten auf bezahlbare Raten eingesteuert.

7. Die Volksversammlung legte einen eigenen Gemüsegarten zur Selbstverwaltung durch die Gemeinde an.

8. Es gibt ein Netz fuer Lebensmittelhilfen, das durch Privatspenden und nicht verkaufte Lebensmittel aus Geschäften gespeist wird.

9. Sachleistungen an betroffene Bürger, keine Geldhilfe – dies soll motivieren, aktiv mitzumachen und nicht nur Hilfe zu empfangen.

10. Gestellung von Schulmaterial für die Kinder

(Petra und Jan)

Besuch bei Sesoula

Foto: Giovanni Lo Curto Sesoula „kleine Schüppe“, einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen,

Sesoula „kleine Schüppe“, einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen.
Foto: Giovanni Lo Curto

Dienstag, 22. September 2015, Athen

Wir gehen im strömenden Regen zu Sesoula (übersetzt „kleine Schüppe“), einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen, die eine Direktvermarktung von Produkten unter Umgehung des Zwischenhandels versuchen. Tonia und Jorgos empfangen uns in einem kleinen Ladengeschäft, das an die Anfänge von Bioläden in Deutschland erinnert. Vor der Tür einige wenige Kisten mit Paprika, Zwiebeln und anderem schon etwas welkem Gemüse, drinnen ein Sortiment an Reinigungsmitteln, Kosmetika, Süßigkeiten, Öl, Kaffee, Reis, Brot und einigen Milchprodukten. Die Preise sind stattlich hoch und entsprechen mindestens denjenigen in deutschen Biolaeden. Obst und Gemüse wird offenbar vor allem in größeren Gebinden abgegeben, ähnlich unseren „Abo-Gemüsekisten“ in Food-Koops.

Die beiden berichten:

Sie haben den Laden vor zwei Jahren mit einem Startkapital von 3.000 Euro geöffnet, damals waren sie 15 Leute, heute besteht das Kollektiv noch aus 7 Personen, die kontinuierlich mitarbeiten. Sie arbeiten ohne Lohn, sind Studenten, Rentner bzw. kommen zusätzlich zu ihren regulären Arbeitsverhältnissen stundenweise zur Mitarbeit. Ein Mitglied ist arbeitslos, für ihn streben sie in der nächsten Zeit eine reguläre Festeinstellung zur Sicherung des Lebensunterhalts an. Um dies zu ermöglichen, müsste jedoch der Umsatz um 50% gesteigert werden.

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Überschüsse, die das Projekt erwirtschaftet, fließen an die Produzenten zurück und gehen in geringem Umfang übergangsweise auch an den arbeitslosen Kollegen.

2011 wurden erstmals die rechtlichen Rahmenbedingungen für solche Kleinst-Kooperativen geschaffen, indem die PASOK-Regierung sie von der Sozialversicherungspflicht befreite und bestimmte Steuererleichterungen einführte. Im Zusammenhang mit den letzten Memoranden der Troika wurden diese Steuerprivilegien aber wieder abgeschafft, sie müssen derzeit Steuern zahlen wie andere Betriebe auch. Die Kooperativen kämpfen für die Wiedereinführung von Steuererleichterungen und für die Befreiung von Auflagen, wie sie für Großbetriebe gelten.

Sesoula  „kleine Schüppe“, einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen. Foto: Giovanni Lo Curto

Sesoula „kleine Schüppe“, einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen.
Foto: Giovanni Lo Curto

Als ihr Ziel geben Tonia und Jorgos an, gute Produkte zu guten Preisen, d.h. um 50% günstiger als zu dieser Qualität im normalen Supermarkt, anzubieten. Dafür kooperieren sie v.a. mit landwirtschaftlichen Kleinstbetrieben und kleinen Werkstätten. Die Produzenten sind ihnen persönlich bekannt, so dass sie die Qualität der Produkte und ihrer Herstellungsweise beurteilen und beeinflussen können. Durch die Vernetzung mit den 11 übrigen Athener Kooperativen können für beide Seiten faire Preise ausgehandelt werden, die an die Konsumenten weitergegeben werden. Die Produkte werden nicht in Kommission genommen, sondern vom Projekt gekauft, das Risiko des Weiterverkaufs liegt bei ihnen selbst.

Neben der persönlichen Beziehung zu den Produzenten ist ihnen auch der Kontakt zu den Konsumenten wichtig, deshalb veranstalten sie z.B. Versammlungen, bei denen über die Projektidee informiert wird und durch die sie versuchen, ein bewussteres und nachhaltigeres Konsumentenbewusstsein zu schaffen, jenseits von Brands und Labelings. Im letzten Jahr konnte erreicht werden, dass 5.000 Tonnen Lebensmittel statt im Müll zu landen an Bedürftige verteilt werden.

Ziel des Projekts ist es, v.a. griechische Produkte zu unterstützen und zu vermarkten, nicht, weil sie gegen internationalen Handel seien, sondern vor dem Hintergrund, dass in den letzten 30 Jahren die griechische Agrarwirtschaft systematisch zerstört wurde, verstärkt in den letzten 6 Jahren.

Sesoula „kleine Schüppe“, einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen. Foto: Giovanni Lo Curto

Sesoula „kleine Schüppe“, einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen.
Foto: Giovanni Lo Curto

1975-85 (vor Eintritt in die damalige EG) seien die Lebensmittel in den Supermärkten noch zu 85% aus einheimischer Produktion gekommen, heute sei das Verhältnis umgekehrt und über 80% der Lebensmittel würden importiert, eine Subsistenz durch einheimische Agrarwirtschaft sei somit unmöglich geworden. Weil bei unserem Treffen mit einem Vertreter von „Solidarity for all“ als aktueller politischer Fokus ebenfalls die Stärkung der materiellen Produktion in Griechenland genannt wurde fragen wir nach der politischen Verbindung. Sie arbeiten im Netzwerk mit, geben u.a. auch einen Teil ihrer Produkte an die Initiativen, die z.B. vor Lebensmittelmärkten Essensspenden für Bedürftige sammeln. Im Laden steht ein Korb, in den Kunden einen Teil ihres Einkaufs fuer diesen Zweck abgeben können.

Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gibt es in Griechenland nicht, Tonia und Jorgos wissen lediglich von langjährigen Kooperativen auf der Peleponnes, die aber „bürokratisiert“ seien. Hier werden deren Mitglieder aber offenbar nicht nur bei der Distribution ihrer Produkte, sondern auch in der Produktion unterstützt, indem z.B. durch die Vergabe günstiger Kredite durch eine eigene Kasse Unabhängigkeit von den Banken ermöglicht wird.

Tonia berichtet von Versuchen der PASOK im Jahr 2010-11, die Agrarwirtschaft zu stärken, indem sie Arbeitslosen 10 Ha Land zur Bearbeitung zur Verfügung stellten. Dies sei aber aufgrund mangelnder Schulung und finanzieller Unterstützung nicht erfolgreich gewesen. In der Landwirtschaft seien zudem migrantische SaisonarbeiterInnen – v.a. aus Bangladesch und Somalia – billiger.

Uns wird deutlich, dass die Idee von „Markt ohne Zwischenhandel“ noch in den allerersten Anfängen steckt, kaum institutionalisiert ist sondern derzeit v.a. auf persönlichen Beziehungen beruht. Sie ist in der Bevölkerung nicht sehr bekannt und weit davon entfernt, die materiellen Grundbedürfnisse größerer Bevölkerungsteile abdecken zu können. Die Stadtflucht ist auch in Griechenland schon vor längerer Zeit erfolgt, eine umgekehrte Bewegung ist derzeit nicht zu erwarten. Erst in diesem Sommer ist ein großer Teil der Kirschenernte in Griechenland mangels „human ressources“ verkommen.

Zur Unterstützung des Aufbaus übergaben wir eine Spende von 500€.

Das Rainbow-House

21. September 2015, Athen

Das Rainbow House war Treffpunkt und Versammlungsort verschiedener Lesben- und Schwulengruppen sowie friedenspolitischer Gruppen. Transgender-Gruppen haben andere eigene Räume. Das „Haus“ waren zwei gemietete Räume, die vor zwei Jahren wegen Geldmangel aufgegeben werden mussten. Jetzt finden Treffen an unterschiedlichen Orten statt, in sozialen Zentren, in Kneipen oder Clubs, was für viele zu teuer ist, weil dort konsumiert werden muss, im Freien in Parks oder in zu kleinen privaten Räumlichkeiten. Der Wunsch, wieder einen eigenen Ort zu haben, ist groß.

SYRIZA hatte vor der Wahl im Januar 2015 versprochen, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu legalisieren – zur Zeit wird von vier Paaren vor Gericht darüber mit der Staatsanwaltschaft gestritten – und die Änderung von Name und Geschlecht in den Ausweispapieren von Transgender-Personen zu ermöglichen. Dies wurde dann auch im Justizministerium vorbereitet. Viele sind enttäuscht, dass diese Gesetze vermutlich auch als Zugeständnis an die mitregierende rechte ANEL-Partei nicht ins Parlament eingebracht wurden. PASOK und TO POTAMI wollten mit SYRIZA dafür stimmen. Die parlamentarische Mehrheit war (und ist) also gegeben.

Die AktivistInnen aus dem Rainbow-House zählen sich zur Linken, zum Teil zur radikalen Linken, sind aber parteipolitisch nicht gebunden. Dass das NEIN des Referendums in ein JA zum dritten Memorandum verkehrt wurde, hat auch hier politische Hoffnungen zerstört.

Das Verhältnis unserer GesprächspartnerInnen zur EU ist ambivalent, denn „jeder Fortschritt in Sachen Menschenrechte oder auch Ökologie kommt aus Brüssel. Die griechischen Parteien, auch die linken, betrachten das als nicht so wichtig.“

Die zunehmend schwierige ökonomische Situation vieler führt auch dazu, dass ein immer größerer Teil der Energie darauf verwendet werden muss, das tägliche Leben zu organisieren. Es entstehen Tauschringe und Zeitbanken, wo nicht nur Dinge, sondern auch Fertigkeiten und Arbeitszeit ausgetauscht oder auch umsonst abgegeben werden.

Die politische Arbeit dreht sich um Gleichstellung (Homo-Ehe, Adoptionsrecht…), Antidiskriminierung, Organisieren der Pride-Paraden (dieses Jahr gab es erstmals drei: in Athen, Thessaloniki und Kreta), aber auch um die Zusammenarbeit mit migrantischen und Flüchtlingsgruppen und das Zusammenführen der Kämpfe gegen Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie.

Unsere Treffen mit drei AktivistInnen des derzeit obdachlosen Rainbow-Houses waren sehr offen und sehr herzlich.

Danke!

Beate und Regine

Montag, 21. September 2015, Exarchia

Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen

Foto: Giovanni Lo Curto Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen

Foto: Giovanni Lo Curto
Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen

Die erste gemeinsame Veranstaltung, die wir als ganze Gruppe in Athen haben, ist das Treffen mit Solidarity4All. Hier erwarten wir neben Informationen, wie sich die Bewegung der Selbstorganisation weiterentwickelt hat, eine Einschätzung, was das dritte Memorandum, die Veränderung der Politik von Syriza und die Wahlen für die soziale Bewegung bedeuten. Wir treffen Christos und Georgia in unserem Frühstücksraum. Ein Platzregen und Gewitter hat uns von unserem schönen Versammlungsort auf der Dachterrasse vertrieben.

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Die Solidaritätsbewegung in Griechenland hat sich 2011 als ein Ergebnis der Platzbesetzungen entwickelt. Nach den heftigen Protesten gegen die unmenschlichen Sparprogramme haben die Menschen zur Selbsthilfe gegriffen und selbstorganisierte Projekt gestartet. In dem Buch „Demokratie im Aufbau von Christos Giovanopoulosist der Prozess ausführlich beschrieben.

Aufgrund der massiven Einschnitte und der hohen Arbeitslosigkeit sank die Kaufkraft. So entstanden die ersten Initiativen im Bereich der Lebensmittelversorgung ohne Zwischenhandel. Die sogenannte Kartoffelbewegung, bei der die Bauern ihr Produkte auf den Straßen Athens direkt an die Verbraucher verkauften. Auf dem Land gründeten Aussteiger landwirtschaftliche Projekte. Selbstorganisierte Solidarische Gesundheitsstationen wurden gegründet. Auch im Bereich der gekürzten Bildungsetats wurde Selbsthilfe organisiert. Sehr viele Schüler (auch in den Privatschulen) brauchen Nachhilfe. Arbeitslose Lehrer organisieren Angebote.

Es waren keine vereinzelten Projekte. Es war eine Bewegung.

Die Entscheidungen werden in Vollversammlungen getroffen, wie bei den Platzbesetzungen. Diese Bewegung wird als eine Erweiterung des Kampfes gesehen. Andererseits lässt es sich schlecht kämpfen, wenn die Versorgung mit dem Nötigsten nicht gesichert ist.

Einen politischen Niederschlag fand die Widerstandsbewegung in der Entwicklung von Syriza von einer kleinen 4-Prozent-Partei zu einer starken Oppositionskraft, die im Parlament 27 Prozent der Wählerstimmen hatte. Syriza beschloss die entstehenden solidarischen Netzwerke mit 10 Prozent ihrer Abgeordneten-Diäten zu unterstützen.

Seither hat jede Gruppe, die das in Anspruch nehmen möchte, Zugang zu diesen Ressourcen. Anfang 2013 wurde Solidarity4All gegründet zur Unterstützung einer freiwilligen Vernetzung dieser Bewegung. Im Internet können die Orte in Griechenland angezeigt werden, wo man solidarische Initiativen finden kann. Seither hat sich die Anzahl der Projekte mehr als verdoppelt.
Dabei ist S4A keine Dachorganisation und auch kein Netzwerk, sondern bietet Hilfestellung für alle, die sie in Anspruch nehmen wollen.

Mittlerweile gibt es über 400 solcher Initiativen in Griechenland. Jeder Bereich: Bildung, Lebensmittel oder Gesundheit, hat seine eigene Vernetzungsstruktur.

Nach den neuen politischen Entwicklungen mit der Unterschrift Syrizas unter das dritte Memorandum ist abzusehen, dass die Not und die Notwendigkeit gegenseitiger Unterstützung noch größer wird. Das bedeutet, dass die Solibewegung und der Widerstand gegen die Memoranden stärker werden müssen. Neue Strukturen müssen aufgebaut werden, die unabhängig von den politischen Parteien sind.

Georgia war auch beim SOLIKON 2015, dem Kongress solidarische Ökonomie in Berlin und hat dort Workshops zur aktuellen Situation in Griechenland durchgeführt.

Sie rückte die Notwendigkeit der Entwicklung des produktiven Sektors in den Vordergrund. Nicht nur soziale Zentren und kollektiv betriebene Cafés in den Städten müssen aufgebaut werden, sondern auch bei der Erzeugung der Lebensmittel in der Landwirtschaft und in anderen Bereichen der Herstellung von Produkten sollen Initiativen ergriffen werden. Die solidarische Ökonomie soll von Solidarity 4 All mit Starthilfe, Know how, Beratung und Kapital gefördert werden

Die Produktionsgenossenschaften spielen eine wichtige Rolle. Auch der Aufbau von Exportstrukturen durch die europaweiten Solidaritätsnetze ist eine Möglichkeit. Es gibt bereits einen Austausch mit Projekten in Belgien. Weitere Schritte wurden auf dem SOLIKON2015 in Berlin unternommen.

Von der letzten Regierung, in der Lafantzanis (führend in der Linken Plattform in Syriza) noch eine Rolle gespielt hat, gab es die Ankündigung solche Prozesse zu unterstützen. Eine Genossenschaft zu gründen ist rechtlich nicht sehr kompliziert. vio.me hat das vorgemacht (vio.me setzt sich allerdings weiterhin juristisch mit den Alteigentümern auseinander). Viele Genossenschaften sind allerdings Pleite gegangen. Nach unseren Erfahrungen mit selbstverwalteter Betrieben in Deutschland haben wir den Eindruck, dass hier in Griechenland bei null angefangen wird. Allerdings herrscht hier eine völlig andere politische und ökonomische Situation.

90 Porzent der Projekte sind völlig unabhängig von Syriza. Bei den selbstorganisierten Projekten haben auch viele Syriza Mitglieder mitgemacht. Für sie beginnt jetzt ein Prozess der Neuorientierung. Es genügt ja nicht Spenden für hungernde Kinder einzusammeln, sondern es muss ja auch die Frage gestellt werden, wer für den Hunger verantwortlich ist. Sonst landet man in der Rolle eines Wohltätigkeitsvereins. Die weitere Entwicklung wird alle zwingen Stellung zu beziehen. Die Diskussion beginnt bei der Bewegung gegen Zwangsversteigerungen von Wohnungen, die durch eine neues Gesetz auf Druck der Troika möglich werden.

Solidarity 4 All hat keine politische Festlegung. Der Schwerpunkt liegt auf der praktischen solidarischen Selbsthilfe. Die Grundlage ist jedoch die Ursachen zu kennen und gegen eine Politik zu sein, die für diese Verhältnisse verantwortlich ist.

Die Solidaritätsbewegung ist nicht abhängig von den politischen Begegnungen und eine Spaltung wie in der Politik ist nicht zwingend. Wenn sie derzeit keinen politischen Ausdruck mehr hat, muss dieser sich neu entwickeln. Bei vielen ist der Eindruck vorherrschend eine historische Chance verpasst zu haben. Bereits 12 Stunden nach dem überwältigenden Referendum kam die Entscheidung zur Kehrtwende. Grund dafür ist, die Abhängigkeit zur Politik der EU als alternativlos zu betrachten. Tragisch ist die Einschätzung, Syriza werde das geforderte Memorandum weniger schmerzhaft umsetzen (können). Das größte Versäumnis von Syriza in den letzten zwei Jahren war, die Bevölkerung nicht auf diese Auseinandersetzung vorzubereiten. Dabei hat das Volk schon seit 2010 den Kern des Problems erfasst, dass nämlich die europäische Politik durch und durch vom deutschen Kapital bestimmt wird. Das hat die Linke nicht erfasst. Eine weitere große Enttäuschung ist, dass die europäische Linke wie Podemos, aber auch Negri und andere dem Kurs von Syriza zustimmt und im sozialdemokratischen Fahrwasser landet . Die Rechte profitiert europaweit von der Angst der Linken .

Foto: Giovanni Lo Curto Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen

Foto: Giovanni Lo Curto
Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen

Die Wahlbeteiligung in Griechenland ist von vorher 63,6 auf jetzt 55 Prozent gesunken. Und der „Wahlsieger“ Syriza hat über 300000 Stimmen verloren. Zu den 46 Prozent Nichtwählern müssen ja noch die 6 Prozent gerechnet werden, deren Stimme nicht im Parlament vertreten ist.

Welche Schlüsse sind aus den griechischen Erfahrungen zu ziehen?

Tsipras hatte bei den Wählern immer noch den Bonus, dass er mit dem korrupten politischen System aufräumen würde. Die (radikale) Linke, auch Antarsya und die KKE, zielen immer nur auf die finanzielle Seite. Es dürfen nicht nur die einzelnen Aspekte betrachtet werden, sondern sie muss auch die Stimmung erfassen: Der (Grund)Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital drückt sich auch im Widerspruch zwischen Volk und politischem System aus. Die letzten 6 Jahre waren eine große Schule. Die politische und die soziale Bewegung zusammen zu bringen war der große Erfolg. Jetzt fällt der politische Druck auf die sozialen Bewegungen zurück.

Politik muss im öffentlichen Raum stattfinden, an dem das Volk sich beteiligen kann.

Hans

 

Der Wahlabend in Athen

20. September 2015, Athen

^AEC568AEA031B17CF0B0737B2C3B356A5D1E6F1DFC70216DC3^pimgpsh_thumbnail_win_distrAthen ist wie leergefegt. Die Griechen sind zur Wahl in ihre Geburtsorte gefahren. Es gilt als irrwitzig schwierig sich hier umzumelden. Da es keine polizeiliche Meldepflicht gibt, versuchen es viele gar nicht erst. Es gibt darüber hinaus keine Briefwahl. Wer wählen möchte, muss am Wahltag in den Ort fahren, in dem er registriert ist. Die Wahl zwischen dem „Nai“ – dem griechischen „Ja“ zum Memorandum und einem anderen „Nai“ zum Memorandum, führte zu einer sehr geringen Wahlbeteiligung.

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Ein Teil unserer Gruppe beschließt die Wahl in einer benachbarten Athener Hamburg Sankt Pauli Fankneipe zu schauen. Es ist viel Platz, es gibt draußen Bildschirme, die die Wahl übertragen. Es laufen die ersten Prognosen über den Bildschirm, noch liegt Syriza bei etwa 22 Prozent. Ein deutlicher Unterschied zu den etwa 35 Prozent. Sie bekommen deutlich mehr Stimmen, als in den Prognosen angenommen wird, erreichen aber auch nicht die absolute Mehrheit.

Wir gehen Richtung Syntagma, wo sich Syriza feiert. Im Gegensatz zur Wahl im Januar sind es lediglich 200 bis 300 Menschen, die zur Wahlparty gekommen sind. Unter den Gästen sind eine Reihe italienischer Genossen. Sie feiern zu modernen Fassungen der Lieder, wie „bella ciao“ und „bandiera rossa“ von der Band „Modena City Ramblers“. Sie gehören zur europäischen Partei „L’Altra Europa con Tsipras“ – Ein anderes Europa mit Tsipras. Antonis ist Mitglied der Jugend von Syriza, er will nicht lange aufgehalten werden: „Ich will jetzt feiern! Wir werden auf jeden Fall weiter kämpfen, um die Austerität zu stoppen.“

Insgesamt ist die Stimmung an diesem Wahlabend in Athen verhalten. Keine Partei kann viele Gäste anziehen. Auf dem Syntagma Platz, auf dem die Nea Demokratia ihr Zelt aufgebaut hat, entsteht der Eindruck, dass mehr internationale Presse vor Ort ist als Wähler. Bei der PASOK (Panellinio Sosialistiko Kinima) , die 2009 noch selbst die Regierung stellte, sitzen lediglich 5 Leute im Zelt.

Doch auch bei der neu gegründeten linken „Volkseinheit“ (Laiki Enotita) ist die Stimmung verhalten. Sie haben die erforderlichen drei Prozent nicht erreicht, um ins Parlament einzuziehen. Sie geben sich dennoch kämpferisch, da sie lediglich 27 Tage Zeit hatten, um mit ihrer Partei den Wahlkampf zu machen. Sie bleiben beim „Nein“ zum Memorandum.

Ulrike K.

19. September 2015 – Besuch bei der Partei „Volkseinheit“

Foto: Giovanni Lo Curto

Foto: Giovanni Lo Curto

Morgen ist Wahltag und viele sind unterwegs in ihre Heimatorte. Wir sind um 16 Uhr verabredet im Büro der „Volkseinheit“, der linken Abspaltung von Syriza. Wir brauchen vom Hotel aus nicht weit zu gehen und müssen erstmal ein bisschen warten, weil die Gesprächspartner noch nicht da sind. Es ist ja nicht verwunderlich, dass alle voll im Stress sind wegen morgen, es ist eher verwunderlich, dass sie überhaupt für uns Zeit haben.

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Es sind dann zwei führende Leute da, Kostas Issychos, ein Vizeminister aus der ehemaligen Syriza-Regierung, und Stathis Kouvelakis, ein Dozent am Kings College in London, der auch deutsch mit uns sprach. In der letzten Zeit gingen viele Artikel und Interviews von ihm durchs Netz, die alle sehr klar waren und auf viel Insiderwissen beruhten. Bei Syriza war er wohl mehr im Ausland und hielt sich zurück, jetzt ist er voll engagiert.
Kostas begrüßte uns und stellte uns die „Volkseinheit“ vor. Es gibt sie seit vier Wochen, seit die frühere Linke Plattform entschlossen hat aus Syriza auszutreten. Er meinte, Tsipras habe die Neuwahlen deshalb so früh eingeleitet, um zu verhindern, dass sie sich als Partei konsolidieren und bekannt machen könnten. Sie sind auch keine Partei, sondern eine Front von 18 verschiedenen Gruppen, die ein 13köpfiges Führungsgremium habe. (Hierin ähneln sie der alten Syriza.)

Für sie ist der Knackpunkt die Unterwerfung unter das dritte Memorandum („Hilfspaket“), wogegen Syriza immer angetreten sei und womit sie auch die Wahlen und das Referendum im Juli gewonnen hätten. Sie treten an um das alte Programm von Syriza gegen die Austeritätspolitik der Gläubiger durchzusetzen. Dies gehe nur außerhalb der Eurozone, das sei jetzt klar geworden. Der Euro sei eben nicht nur eine technische Währungsunion, sondern ein System von neoliberalen Werten und Prinzipien.

Die Haltung zum Memorandum sei die alles entscheidende Frage. Das neue Memorandum unterscheide sich von den früheren dadurch, dass es ein vollständiges Regierungsprogramm für die nächsten drei Jahre sei. Es umfasse 977 Seiten mit Vorschriften bis ins Detail (die Abgeordneten im Parlament bekamen es genau 35 Stunden vor der Abstimmung!). Und die Dinge, die nicht geregelt seien und über die das neue Parlament zu befinden habe, müssen vorher in Brüssel zur Genehmigung und Korrektur vorgelegt werden. Auf die Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit mit anderen linken Parteien kam denn auch die eindeutige Antwort: Das Memorandum sei die Wasserscheide. Es könne keine Zusammenarbeit mit Parteien oder Gruppen geben, die das Memorandum befürworten.

Angesichts dieser Einschätzung kam mir die Bemerkung von Kostas, dies sei eine historische Wahl, komisch vor, und ich fragte ihn, was es denn außer dem Memorandum zu wählen gebe. Er verstand aber die Frage nicht so recht.

Wir fragten, ob es denn keinen „Plan B“ innerhalb Syrizas gegeben habe für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern würden. Sie erklärten, es habe in der Linken Plattform schon einen Plan B gegeben, aber der enge Führungszirkel um Tsipras, der praktisch die Partei bei den entscheidenden Fragen ausgeschaltet habe, habe nie nachgefragt. Erst am 10. Juli, zwei Tage vor der Kapitulation, hätten sie nachgefragt. Da sei es natürlich viel zu spät gewesen, da die griechische Regierung überhaupt keinen Verhandlungstrumpf mehr hatte, nachdem sie die staatlichen Kassen völlig geleert habe, um sieben Milliarden Euro von Februar bis Juni zurückzuzahlen. Der ehemalige Vizeminister machte das an einem Bild deutlich: Man fährt auf der Autobahn mit 150 km/h und bemerkt eine Mauer in zwei Kilometer Entfernung. Aber anstatt eine Ausweichmöglichkeit zu suchen, fährt man ungebremst weiter und erkundigt sich dann 50 m vor der Mauer nach einer Alternative.

Die „Volkseinheit“ werde sich auf die Widerstandsinitiativen in der Bevölkerung, in den Gewerkschaften, in den sozialen Bewegungen stützen. Gerade heute würden Tausende von Bauern mit ihren Traktoren die Straßen blockieren. Sie wollten diesen Volkswiderstand unterstützen und ihm eine Plattform geben. Kostas meinte, sie müssten sich eine Basis in den Widerstandsbewegungen schaffen, um langfristig wieder eine parlamentarische Mehrheit zu schaffen. Das hörte sich für mich doch sehr stark nach „Syriza 2.0“ an. Nach dem gescheiterten parlamentarischen Weg müsste es doch eigentlich die Hauptaufgabe sein, die Widerstandsbewegungen zu organisieren und sie zu einer Kraft zu machen, statt schon wieder alle Kraft auf Wahlen und Parlament zu legen.

Kouvelakis erklärte im Nachgespräch, dass fast alle Aktiven und kämpferischen Elemente aus den sozialen Bewegungen Syriza verlassen hätten. Wer noch drin sei, seien vor allem Parteifunktionäre und Leute mit Jobs im Staatsdienst, die ihre Jobs behalten wollten. Diejenigen, die zu ihnen, zur „Volkseinheit“, gegangen seien, hätten ihre Partei- oder Regierungsposten aufgegeben, wenn sie denn welche hatten.

Angesichts der kurzen Frist von Gründung bis zum Wahltag hofften sie über die Dreiprozenthürde zu kommen um ins Parlament einzuziehen.

Manfred

18. September 2015 – Gedenkdemonstration Pavlos Fyssas

Foto: Giovanni Lo Curto

Foto: Giovanni Lo Curto

Ein Teil unserer Gruppe machte sich per Bus, Metro oder Taxi auf den Weg nach Keratsini, einem Ortsteil von Piräus, wo vor genau zwei Jahren, am 18.09.2013, Pavlos Fyssas von den Nazis der „Goldenen Morgenröte“ ermordet wurde. Wir waren zweimal mit unserer Reisegruppe dort. Wir berichteten im Reisetagebuch 2013 und Reisetagebuch 2014 darüber.

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Diesmal wollten wir uns der Demo zum Gedenken an Pavlos Fyssas anschließen. Die Auftaktkundgebung begann an der Stelle, in der P.Tsaladari 60, wo er ermordet wurde. Dort steht heute ein Gedenkstein. Wir trafen uns mit einigen Menschen aus der Stadtteilinitiative in Perama, die wir schon mehrmals besucht und auch nach Berlin eingeladen hatten.

Es waren etwa 1.000 Leute auf der Demo. Was auffiel, waren die vielen Jugendlichen, ganz junge Leute, Anarchisten und organisierte Gruppen der radikalen Linken, die in Blöcken liefen. Viele Jugendliche hatten Tücher vor dem Gesicht. Einige hatten Stöcke, später flogen Steine, in einem Café wurden Stühle umgestürzt.

An der Demospitze gab es Diskussionen darüber, wer wo mitläuft; die Gruppen sind untereinander zerstritten. Wer da gegen wen kämpft, das erschloss sich uns allerdings nicht. Die Gruppen riefen Parolen wie: „Nie wieder Faschismus, Pavlos Fyssas soll leben, schlagt die Faschisten, gegen Faschismus und Imperialismus…“

Wir haben uns z. T. unter die Demonstranten gemischt, uns den Demozug angesehen oder sind ganz hinten mit unserem Transparent mitgelaufen – zur eigenen Sicherheit. Gegen Ende der Demo warf die Polizei nämlich Tränengaspatronen in den Demozug. Wir sahen einige ausgebrannte Müll-Container; ein Supermarkt wurde „entglast“ und aus einem Vodaphone-Shop qualmte es.

Trotz der Steine, die flogen, und der brennenden Container – es war keine kraftvolle Demo. Mir schien das eher wie ein Ritual und ich fand es schade, dass nur so wenige Menschen auf der Demo waren. Sicher, es war nicht die einzige Veranstaltung zum Gedenken an Pavlos Fyssas, aber ich hatte mehr erwartet. Die Menschen, die am Rand standen und sich das Spektakel ansahen, AnwohnerInnen, Angestellte und die InhaberInnen der kleinen Läden und Cafés, wollten sich nicht zur Demo äußern. Aber alle, die ich gefragt habe, wussten, warum beziehungsweise wogegen demonstriert wurde.

Einige von uns sind anschließend mit dem Taxi nach Piräus gefahren, denn es fuhren keine Busse. Der Taxifahrer blieb völlig gelassen und umkurvte einfach die brennenden Container, die auf der Fahrbahn lagen. Er wählt SYRIZA, weil er den Euro behalten will. Sein Geschäft läuft gut, trotz der Krise. Seine Fahrgäste sind sowohl Touristen als auch Einheimische.

Brian

Donnerstag, 17. September, Besuch bei der Nachbarschaftsinitiative Perama

Solidarity for Greece

Foto: Giovanni Lo Curto

Von einem Wahlkampf ist in Perama, einem Vorort von Piräus im Großraum Athen kaum etwas zu sehen. Nirgends hängen Wahlplakate. Ein kleiner Stand von Syriza steht etwas verloren auf einem Platz im Stadtteil. Hier leben etwa 25.000 Menschen. Perama ist heute ein Ort mit einer hohen Arbeitslosigkeit, die noch deutlich über dem griechischen Durchschnitt liegt.

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Es liegt etwa eine Stunde entfernt vom Stadtzentrum Athen. Als wir mit dem Bus dort ankommen und seiner engen Hitze entfliehen können, sind alle froh noch ein wenig laufen zu können. Doch kurz darauf bleiben die ersten stehen, da sie trotz ihres dritten Besuchs den Weg vergessen haben. „Hat irgend jemand die genaue Adresse dabei?“, Manfred telefoniert inzwischen mit Babis, ein Passant bemüht sich ebenfalls uns den Weg zu erklären. Der Empfang ist entsprechen herzlich und belustigt, weil wir den Weg nicht mehr wussten. Nach einem kurzen Austausch unter denjenigen, die bereits mehrere Male hier waren, versammeln sich alle im Raum. Regina aus Hamburg, Sankt Georg steht auf und beginnt mit einer kleinen Rede: „Ihr kennt alle Rolf. Er hatte in diesem Jahr einen runden Geburtstag.“ Alle hören gespannt zu. „Vor seinem Geburtstag sagte er uns, dass er in diesem Jahr keine Geschenke wolle. Er feierte dann im Schauspielhaus Hamburg“ So langsam macht sich Verwirrung auf den Gesichtern unserer Gastgeber breit. Sie wissen nicht, dass sich Rolf zu seinem Geburtstag eine Solidaritätsfeier für die Nachbarschaftsinitiative Perama gewünscht hat. Nach einigen weiteren Erläuterungen kommt Regina zum Kern ihrer kleinen Ansprache: „ Auf der Geburtstagsfeier von Rolf spendeten etwa 1.100 Gäste 7.163,64 Euro.“

Klatschen, lachen, ein wenig Ungläubigkeit ist auch dabei. Regina übergibt den Umschlag an Babis. Er bedankt sich im Namen aller: „Das ist Sauerstoff für uns, damit können wir viele Monate weitermachen und durchhalten. Wir freuen uns wirklich sehr über diese Spende. Wir danken euch.“ Jetzt meldet Carsten sich zu Wort: „Auch wir müssen euch danken, dafür dass ihr uns zeigt, wie man kämpft. Und da wir jetzt an dem Punkt sind, dass wir uns ständig gegenseitig danken, können wir es einfach mal lassen mit der Danksagerei, Solidarität bedeutet schließlich gegenseitige Unterstützung.“

Dieser kleine Beitrag ist der Anstoß zur gemeinsamen Debatte. Bei der Nachbarschaftsinitiative in Perama gehen die Meinungen in Bezug auf Syriza auseinander. Die Enttäuschung darüber, das Tzipras das Memorandum unterschrieben hat ist deutlich. Mit der Wahl Syrizas im Januar hofften sie auf ein Ende der Sparpolitik der Troika. Sie hofften auf eine Wirtschaftspolitik, die ihnen Arbeit und Leben zurückgibt. Die Situation ist für sie unverändert.

Elli ist 47 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und den drei erwachsenen Kindern hier. Reich waren sie auch vor der Krise nicht. Ihr Mann Apostolis arbeitete hier als Fahrer, Elli als Verkäuferin. Sie ist jetzt arbeitslos und ihr Mann verdient deutlich weniger, als vor der Krise. Den Kredit für ihre Wohnung können sie nicht mehr aufbringen. „Wir können die Raten für unsere Wohnung nicht mehr bezahlen. Strom und Wasser sind abgestellt.“ erzählt Elli. Offen sprechen sie über ihr Einkommen. Ihr Mann verdiene heute 800 Euro im Monat, die Raten für die Wohnung betrügen 500 Euro. Auch ohne die Raten kann keine fünfköpfige Familie davon leben. So wie den Ellis Familie geht es hier vielen Menschen. Neransis ist 55, er hat gesundheitliche Probleme und bekommt deshalb eine kleine Rente. Diese ist allerdings das gesamte Familien Einkommen. Naransis erzählt: „Ich habe früher in Stuttgart gearbeitet. Ohne meine gesundheitlichen Probleme würde ich wieder zurück gehen.“ Auch Boula muss sich und ihre beiden erwachsenen Kinder von ihrer Rente ernähren. Egal wen man hier fragt, die Lebenssituationen ähneln sich.

Sie werden weiterkämpfen. Sie klatschen und lachen, als wir das neue Transparent auspacken: „Gegen die kapitalistischen Raubzüge aus Berlin und Brüssel – grenzenlose Solidarität“

Ulrike

Erster Bericht – Heraklion

Mittwoch 16. September, Heraklion

Wir sind angekommen.

Es ist ja noch vier Tage vor dem gemeinsamen Programm der Gruppe „Solireise nach Griechenland“. Wir haben unsere Erkundungen auf Kreta ausgeweitet, eine Insel, die viele nur von ihren Ferienreisen kennen und wegen ihrer Schönheit und dem milden Mittelmeerklima schätzen.

Ausschlaggebend war, dass die Menschen hier besonders widerständig zu sein scheinen. In Kreta wurde im zweiten Weltkrieg besonders hart gegen die deutsche Besatzung gekämpft. Das zeigen auch die vielen Orte der Erinnerung daran. Beim Referendum über die Austeritätsdiktate wurde an vielen Orten mit „Oxi“ („Nein“) gestimmt.

Dazu kommt, dass wir begonnen haben, uns am Vertrieb des Olivenöls von „becollective“ in Kreta zu beteiligen. Dies erwies sich als Glücksfall. Die Entscheidung eines Teils von uns, nach Kreta zu fahren, fiel relativ kurzfristig und wir hatten noch keine Antwort auf unsere Anfragen an verschiedene Projekte der Selbstorganisation, die wir besuchen wollten, bekommen. Wie zum Beispiel der Sozialen Klinik der Solidarität in Heraklion. In unser Blickfeld geriet diese Initiative durch einen Aufruf für ein internationales Solidaritätsnetzwerk, der im Juli 2015 gestartet wurde.

Dieser Aufruf korrespondierte direkt mit dem Anliegen unserer Reisegruppe.

Die Gruppe „becollective“ ist offensichtlich gut vernetzt. Jedenfalls brachte ein Anruf bei Alex, einem der Initiatoren, den Kontakt zu Mara, einer Aktivistin der solidarischen Gesundheitsstation, die uns zu einer Versammlung von ehrenamtlichen Helfer_innen einlud, die jeden Mittwochabend in den Räumen der Klinik in der Universität von Heraklion stattfindet. So hatten wir die Gelegenheit, gleich mit einer ganzen Gruppe von Menschen zu sprechen.

An dem Projekt arbeiten 500 Menschen mit. Viele von ihnen, aber nicht alle, kommen aus Gesundheitsberufen und kommen außerhalb ihrer Erwerbsarbeit hierher, wie Corinna, die im Hauptberuf Grafikdesignerin ist. Es gibt hier, wie in fast allen der über 40 solidarischen Arztpraxen in Griechenland, verschiedene Fachrichtungen, wie Zahnärzte, Kinderärzte oder Psychiater_innen. Hierher kommen Menschen, die sich keine Krankenversicherung mehr leisten können.

Jeder neue Patient, der hierher kommt, hat erst mal ein Gespräch mit einer Sozialarbeiterin, in dem die Rahmenbedingungen seiner Erkrankung besprochen werden. Eine Bedürftigkeitsprüfung findet nicht statt. Jeder hat das Recht auf Gesundheitsversorgung! Als wir ankommen, ist der Wartebereich der großzügigen Räumlichkeit gut gefüllt. Die Teilnehmer des Meetings treffen nach und nach ein. Am Schluss sind es nicht viel mehr als 10 Leute, die kommen. Es können keine Entscheidungen getroffen werden. So werden einzelne praktische Dinge besprochen und es werden Medikamentenspenden und andere Dinge sortiert, die an Flüchtlinge verteilt werden sollen. Bei unseren Gesprächen stellte sich heraus, dass es durchaus Kontakte nach Berlin zu Freund_innen von uns gibt. Naja, wir haben das Rad der Solidarität ja auch nicht erfunden.

Mara hatte uns für das Treffen mit dem Auto abgeholt. Es ist nicht ganz einfach, das im Randgebiet von Heraklion liegende Gebäude zu finden. Viele der PatientInnen müssen mit dem Bus dorthin kommen. Weil sie sich die Fahrt oft nicht leisten können, gibt es ein Agreement mit der Busgesellschaft, in diesem Fall umsonst Tickets zu vergeben. Nach dem Treffen werden wir von Themes wieder in die Stadtmitte zurückgebracht, wo sich das besetzte Haus „Evangelismos“ befindet. Hier treffen wir Akis von „becollektive“ und andere meist anarchistische Aktivist*innen.

Das Haus ist zumindest außen frisch restauriert und macht einen stattlichen Eindruck. Ganz oben weht die scharz-rote Fahne. Wir treffen uns in der Bibliothek. Überall liegen stapelweise Plakate, Broschüren und Flugblätter, wie das in so einem selbstorganisierten Zentrum eben so ist. Aktuell soll ein Vorbereitungstreffen für die Pavlos Fyssas-Demonstration am Freitag stattfinden und es werden Plakate mit dem Aufruf zum Wahlboykott verklebt.

Akis und Markus, und später kommt noch jemand dazu, erzählen uns von der Arbeit der Olivenernte, die sich auf die Monate November bis März konzentriert. Die Kerngruppe besteht aus acht Leuten, die gemeinsam die Entscheidungen treffen, aber in der Erntezeit kommen noch einige Leute dazu. Die meisten Leute wohnen in der Stadt und fahren dann auf die Felder der Umgebung zur Arbeit.

Die meisten sind politisch aktiv. An die Wahlen, die am Sonntag stattfinden, haben sie keine Erwartungen. Auf der anderen Seite bemängeln sie, dass es gerade in der anarchistischen Szene in Griechenland keine Strategie gibt. Es gibt zahlreiche Gruppen, die aber oft sehr individuelle Ansichten haben. Zusammenzukommen ist daher nicht so einfach. Deshalb wird derzeit über Formen einer überregionalen Zusammenarbeit nachgedacht. Wir berichten über die soziale Situation in Deutschland, über die Schaffung eines Niedriglohnsektor durch die Agenda 2010, von der sie bisher noch nichts gehört haben und die sie sich nicht richtig vorstellen können. Deutschland gilt zu Recht als reiches Land, wie ungleich dieser Reichtum verteilt ist, ist oft nicht bekannt. Wir laden sie ein, nach Deutschland zu kommen. Schließlich soll unser Projekt keine Einbahnstraße sein.

Hans und Cordula

Fotos folgen.