19. September 2015 – Besuch bei der Partei „Volkseinheit“

Foto: Giovanni Lo Curto

Foto: Giovanni Lo Curto

Morgen ist Wahltag und viele sind unterwegs in ihre Heimatorte. Wir sind um 16 Uhr verabredet im Büro der „Volkseinheit“, der linken Abspaltung von Syriza. Wir brauchen vom Hotel aus nicht weit zu gehen und müssen erstmal ein bisschen warten, weil die Gesprächspartner noch nicht da sind. Es ist ja nicht verwunderlich, dass alle voll im Stress sind wegen morgen, es ist eher verwunderlich, dass sie überhaupt für uns Zeit haben.

Weitere Bilder
Es sind dann zwei führende Leute da, Kostas Issychos, ein Vizeminister aus der ehemaligen Syriza-Regierung, und Stathis Kouvelakis, ein Dozent am Kings College in London, der auch deutsch mit uns sprach. In der letzten Zeit gingen viele Artikel und Interviews von ihm durchs Netz, die alle sehr klar waren und auf viel Insiderwissen beruhten. Bei Syriza war er wohl mehr im Ausland und hielt sich zurück, jetzt ist er voll engagiert.
Kostas begrüßte uns und stellte uns die „Volkseinheit“ vor. Es gibt sie seit vier Wochen, seit die frühere Linke Plattform entschlossen hat aus Syriza auszutreten. Er meinte, Tsipras habe die Neuwahlen deshalb so früh eingeleitet, um zu verhindern, dass sie sich als Partei konsolidieren und bekannt machen könnten. Sie sind auch keine Partei, sondern eine Front von 18 verschiedenen Gruppen, die ein 13köpfiges Führungsgremium habe. (Hierin ähneln sie der alten Syriza.)

Für sie ist der Knackpunkt die Unterwerfung unter das dritte Memorandum („Hilfspaket“), wogegen Syriza immer angetreten sei und womit sie auch die Wahlen und das Referendum im Juli gewonnen hätten. Sie treten an um das alte Programm von Syriza gegen die Austeritätspolitik der Gläubiger durchzusetzen. Dies gehe nur außerhalb der Eurozone, das sei jetzt klar geworden. Der Euro sei eben nicht nur eine technische Währungsunion, sondern ein System von neoliberalen Werten und Prinzipien.

Die Haltung zum Memorandum sei die alles entscheidende Frage. Das neue Memorandum unterscheide sich von den früheren dadurch, dass es ein vollständiges Regierungsprogramm für die nächsten drei Jahre sei. Es umfasse 977 Seiten mit Vorschriften bis ins Detail (die Abgeordneten im Parlament bekamen es genau 35 Stunden vor der Abstimmung!). Und die Dinge, die nicht geregelt seien und über die das neue Parlament zu befinden habe, müssen vorher in Brüssel zur Genehmigung und Korrektur vorgelegt werden. Auf die Frage nach einer möglichen Zusammenarbeit mit anderen linken Parteien kam denn auch die eindeutige Antwort: Das Memorandum sei die Wasserscheide. Es könne keine Zusammenarbeit mit Parteien oder Gruppen geben, die das Memorandum befürworten.

Angesichts dieser Einschätzung kam mir die Bemerkung von Kostas, dies sei eine historische Wahl, komisch vor, und ich fragte ihn, was es denn außer dem Memorandum zu wählen gebe. Er verstand aber die Frage nicht so recht.

Wir fragten, ob es denn keinen „Plan B“ innerhalb Syrizas gegeben habe für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern würden. Sie erklärten, es habe in der Linken Plattform schon einen Plan B gegeben, aber der enge Führungszirkel um Tsipras, der praktisch die Partei bei den entscheidenden Fragen ausgeschaltet habe, habe nie nachgefragt. Erst am 10. Juli, zwei Tage vor der Kapitulation, hätten sie nachgefragt. Da sei es natürlich viel zu spät gewesen, da die griechische Regierung überhaupt keinen Verhandlungstrumpf mehr hatte, nachdem sie die staatlichen Kassen völlig geleert habe, um sieben Milliarden Euro von Februar bis Juni zurückzuzahlen. Der ehemalige Vizeminister machte das an einem Bild deutlich: Man fährt auf der Autobahn mit 150 km/h und bemerkt eine Mauer in zwei Kilometer Entfernung. Aber anstatt eine Ausweichmöglichkeit zu suchen, fährt man ungebremst weiter und erkundigt sich dann 50 m vor der Mauer nach einer Alternative.

Die „Volkseinheit“ werde sich auf die Widerstandsinitiativen in der Bevölkerung, in den Gewerkschaften, in den sozialen Bewegungen stützen. Gerade heute würden Tausende von Bauern mit ihren Traktoren die Straßen blockieren. Sie wollten diesen Volkswiderstand unterstützen und ihm eine Plattform geben. Kostas meinte, sie müssten sich eine Basis in den Widerstandsbewegungen schaffen, um langfristig wieder eine parlamentarische Mehrheit zu schaffen. Das hörte sich für mich doch sehr stark nach „Syriza 2.0“ an. Nach dem gescheiterten parlamentarischen Weg müsste es doch eigentlich die Hauptaufgabe sein, die Widerstandsbewegungen zu organisieren und sie zu einer Kraft zu machen, statt schon wieder alle Kraft auf Wahlen und Parlament zu legen.

Kouvelakis erklärte im Nachgespräch, dass fast alle Aktiven und kämpferischen Elemente aus den sozialen Bewegungen Syriza verlassen hätten. Wer noch drin sei, seien vor allem Parteifunktionäre und Leute mit Jobs im Staatsdienst, die ihre Jobs behalten wollten. Diejenigen, die zu ihnen, zur „Volkseinheit“, gegangen seien, hätten ihre Partei- oder Regierungsposten aufgegeben, wenn sie denn welche hatten.

Angesichts der kurzen Frist von Gründung bis zum Wahltag hofften sie über die Dreiprozenthürde zu kommen um ins Parlament einzuziehen.

Manfred