Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen
Foto: Giovanni Lo Curto
Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen
Die erste gemeinsame Veranstaltung, die wir als ganze Gruppe in Athen haben, ist das Treffen mit Solidarity4All. Hier erwarten wir neben Informationen, wie sich die Bewegung der Selbstorganisation weiterentwickelt hat, eine Einschätzung, was das dritte Memorandum, die Veränderung der Politik von Syriza und die Wahlen für die soziale Bewegung bedeuten. Wir treffen Christos und Georgia in unserem Frühstücksraum. Ein Platzregen und Gewitter hat uns von unserem schönen Versammlungsort auf der Dachterrasse vertrieben.
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Die Solidaritätsbewegung in Griechenland hat sich 2011 als ein Ergebnis der Platzbesetzungen entwickelt. Nach den heftigen Protesten gegen die unmenschlichen Sparprogramme haben die Menschen zur Selbsthilfe gegriffen und selbstorganisierte Projekt gestartet. In dem Buch „Demokratie im Aufbau“ von Christos Giovanopoulosist der Prozess ausführlich beschrieben.
Aufgrund der massiven Einschnitte und der hohen Arbeitslosigkeit sank die Kaufkraft. So entstanden die ersten Initiativen im Bereich der Lebensmittelversorgung ohne Zwischenhandel. Die sogenannte Kartoffelbewegung, bei der die Bauern ihr Produkte auf den Straßen Athens direkt an die Verbraucher verkauften. Auf dem Land gründeten Aussteiger landwirtschaftliche Projekte. Selbstorganisierte Solidarische Gesundheitsstationen wurden gegründet. Auch im Bereich der gekürzten Bildungsetats wurde Selbsthilfe organisiert. Sehr viele Schüler (auch in den Privatschulen) brauchen Nachhilfe. Arbeitslose Lehrer organisieren Angebote.
Es waren keine vereinzelten Projekte. Es war eine Bewegung.
Die Entscheidungen werden in Vollversammlungen getroffen, wie bei den Platzbesetzungen. Diese Bewegung wird als eine Erweiterung des Kampfes gesehen. Andererseits lässt es sich schlecht kämpfen, wenn die Versorgung mit dem Nötigsten nicht gesichert ist.
Einen politischen Niederschlag fand die Widerstandsbewegung in der Entwicklung von Syriza von einer kleinen 4-Prozent-Partei zu einer starken Oppositionskraft, die im Parlament 27 Prozent der Wählerstimmen hatte. Syriza beschloss die entstehenden solidarischen Netzwerke mit 10 Prozent ihrer Abgeordneten-Diäten zu unterstützen.
Seither hat jede Gruppe, die das in Anspruch nehmen möchte, Zugang zu diesen Ressourcen. Anfang 2013 wurde Solidarity4All gegründet zur Unterstützung einer freiwilligen Vernetzung dieser Bewegung. Im Internet können die Orte in Griechenland angezeigt werden, wo man solidarische Initiativen finden kann. Seither hat sich die Anzahl der Projekte mehr als verdoppelt.
Dabei ist S4A keine Dachorganisation und auch kein Netzwerk, sondern bietet Hilfestellung für alle, die sie in Anspruch nehmen wollen.
Mittlerweile gibt es über 400 solcher Initiativen in Griechenland. Jeder Bereich: Bildung, Lebensmittel oder Gesundheit, hat seine eigene Vernetzungsstruktur.
Nach den neuen politischen Entwicklungen mit der Unterschrift Syrizas unter das dritte Memorandum ist abzusehen, dass die Not und die Notwendigkeit gegenseitiger Unterstützung noch größer wird. Das bedeutet, dass die Solibewegung und der Widerstand gegen die Memoranden stärker werden müssen. Neue Strukturen müssen aufgebaut werden, die unabhängig von den politischen Parteien sind.
Georgia war auch beim SOLIKON 2015, dem Kongress solidarische Ökonomie in Berlin und hat dort Workshops zur aktuellen Situation in Griechenland durchgeführt.
Sie rückte die Notwendigkeit der Entwicklung des produktiven Sektors in den Vordergrund. Nicht nur soziale Zentren und kollektiv betriebene Cafés in den Städten müssen aufgebaut werden, sondern auch bei der Erzeugung der Lebensmittel in der Landwirtschaft und in anderen Bereichen der Herstellung von Produkten sollen Initiativen ergriffen werden. Die solidarische Ökonomie soll von Solidarity 4 All mit Starthilfe, Know how, Beratung und Kapital gefördert werden
Die Produktionsgenossenschaften spielen eine wichtige Rolle. Auch der Aufbau von Exportstrukturen durch die europaweiten Solidaritätsnetze ist eine Möglichkeit. Es gibt bereits einen Austausch mit Projekten in Belgien. Weitere Schritte wurden auf dem SOLIKON2015 in Berlin unternommen.
Von der letzten Regierung, in der Lafantzanis (führend in der Linken Plattform in Syriza) noch eine Rolle gespielt hat, gab es die Ankündigung solche Prozesse zu unterstützen. Eine Genossenschaft zu gründen ist rechtlich nicht sehr kompliziert. vio.me hat das vorgemacht (vio.me setzt sich allerdings weiterhin juristisch mit den Alteigentümern auseinander). Viele Genossenschaften sind allerdings Pleite gegangen. Nach unseren Erfahrungen mit selbstverwalteter Betrieben in Deutschland haben wir den Eindruck, dass hier in Griechenland bei null angefangen wird. Allerdings herrscht hier eine völlig andere politische und ökonomische Situation.
90 Porzent der Projekte sind völlig unabhängig von Syriza. Bei den selbstorganisierten Projekten haben auch viele Syriza Mitglieder mitgemacht. Für sie beginnt jetzt ein Prozess der Neuorientierung. Es genügt ja nicht Spenden für hungernde Kinder einzusammeln, sondern es muss ja auch die Frage gestellt werden, wer für den Hunger verantwortlich ist. Sonst landet man in der Rolle eines Wohltätigkeitsvereins. Die weitere Entwicklung wird alle zwingen Stellung zu beziehen. Die Diskussion beginnt bei der Bewegung gegen Zwangsversteigerungen von Wohnungen, die durch eine neues Gesetz auf Druck der Troika möglich werden.
Solidarity 4 All hat keine politische Festlegung. Der Schwerpunkt liegt auf der praktischen solidarischen Selbsthilfe. Die Grundlage ist jedoch die Ursachen zu kennen und gegen eine Politik zu sein, die für diese Verhältnisse verantwortlich ist.
Die Solidaritätsbewegung ist nicht abhängig von den politischen Begegnungen und eine Spaltung wie in der Politik ist nicht zwingend. Wenn sie derzeit keinen politischen Ausdruck mehr hat, muss dieser sich neu entwickeln. Bei vielen ist der Eindruck vorherrschend eine historische Chance verpasst zu haben. Bereits 12 Stunden nach dem überwältigenden Referendum kam die Entscheidung zur Kehrtwende. Grund dafür ist, die Abhängigkeit zur Politik der EU als alternativlos zu betrachten. Tragisch ist die Einschätzung, Syriza werde das geforderte Memorandum weniger schmerzhaft umsetzen (können). Das größte Versäumnis von Syriza in den letzten zwei Jahren war, die Bevölkerung nicht auf diese Auseinandersetzung vorzubereiten. Dabei hat das Volk schon seit 2010 den Kern des Problems erfasst, dass nämlich die europäische Politik durch und durch vom deutschen Kapital bestimmt wird. Das hat die Linke nicht erfasst. Eine weitere große Enttäuschung ist, dass die europäische Linke wie Podemos, aber auch Negri und andere dem Kurs von Syriza zustimmt und im sozialdemokratischen Fahrwasser landet . Die Rechte profitiert europaweit von der Angst der Linken .
Foto: Giovanni Lo Curto
Gespräch mit Christos und Georgia von Solidarity 4 All über Perspektiven der Solidaritätsbewegung nach dem 3. Memorandum und nach den Wahlen
Die Wahlbeteiligung in Griechenland ist von vorher 63,6 auf jetzt 55 Prozent gesunken. Und der „Wahlsieger“ Syriza hat über 300000 Stimmen verloren. Zu den 46 Prozent Nichtwählern müssen ja noch die 6 Prozent gerechnet werden, deren Stimme nicht im Parlament vertreten ist.
Welche Schlüsse sind aus den griechischen Erfahrungen zu ziehen?
Tsipras hatte bei den Wählern immer noch den Bonus, dass er mit dem korrupten politischen System aufräumen würde. Die (radikale) Linke, auch Antarsya und die KKE, zielen immer nur auf die finanzielle Seite. Es dürfen nicht nur die einzelnen Aspekte betrachtet werden, sondern sie muss auch die Stimmung erfassen: Der (Grund)Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital drückt sich auch im Widerspruch zwischen Volk und politischem System aus. Die letzten 6 Jahre waren eine große Schule. Die politische und die soziale Bewegung zusammen zu bringen war der große Erfolg. Jetzt fällt der politische Druck auf die sozialen Bewegungen zurück.
Politik muss im öffentlichen Raum stattfinden, an dem das Volk sich beteiligen kann.
Hans