Dienstag, 22. September 2015, Athen
Wir gehen im strömenden Regen zu Sesoula (übersetzt „kleine Schüppe“), einem von insgesamt 12 Lebensmittel-Kooperativen in Athen, die eine Direktvermarktung von Produkten unter Umgehung des Zwischenhandels versuchen. Tonia und Jorgos empfangen uns in einem kleinen Ladengeschäft, das an die Anfänge von Bioläden in Deutschland erinnert. Vor der Tür einige wenige Kisten mit Paprika, Zwiebeln und anderem schon etwas welkem Gemüse, drinnen ein Sortiment an Reinigungsmitteln, Kosmetika, Süßigkeiten, Öl, Kaffee, Reis, Brot und einigen Milchprodukten. Die Preise sind stattlich hoch und entsprechen mindestens denjenigen in deutschen Biolaeden. Obst und Gemüse wird offenbar vor allem in größeren Gebinden abgegeben, ähnlich unseren „Abo-Gemüsekisten“ in Food-Koops.
Die beiden berichten:
Sie haben den Laden vor zwei Jahren mit einem Startkapital von 3.000 Euro geöffnet, damals waren sie 15 Leute, heute besteht das Kollektiv noch aus 7 Personen, die kontinuierlich mitarbeiten. Sie arbeiten ohne Lohn, sind Studenten, Rentner bzw. kommen zusätzlich zu ihren regulären Arbeitsverhältnissen stundenweise zur Mitarbeit. Ein Mitglied ist arbeitslos, für ihn streben sie in der nächsten Zeit eine reguläre Festeinstellung zur Sicherung des Lebensunterhalts an. Um dies zu ermöglichen, müsste jedoch der Umsatz um 50% gesteigert werden.
Überschüsse, die das Projekt erwirtschaftet, fließen an die Produzenten zurück und gehen in geringem Umfang übergangsweise auch an den arbeitslosen Kollegen.
2011 wurden erstmals die rechtlichen Rahmenbedingungen für solche Kleinst-Kooperativen geschaffen, indem die PASOK-Regierung sie von der Sozialversicherungspflicht befreite und bestimmte Steuererleichterungen einführte. Im Zusammenhang mit den letzten Memoranden der Troika wurden diese Steuerprivilegien aber wieder abgeschafft, sie müssen derzeit Steuern zahlen wie andere Betriebe auch. Die Kooperativen kämpfen für die Wiedereinführung von Steuererleichterungen und für die Befreiung von Auflagen, wie sie für Großbetriebe gelten.
Als ihr Ziel geben Tonia und Jorgos an, gute Produkte zu guten Preisen, d.h. um 50% günstiger als zu dieser Qualität im normalen Supermarkt, anzubieten. Dafür kooperieren sie v.a. mit landwirtschaftlichen Kleinstbetrieben und kleinen Werkstätten. Die Produzenten sind ihnen persönlich bekannt, so dass sie die Qualität der Produkte und ihrer Herstellungsweise beurteilen und beeinflussen können. Durch die Vernetzung mit den 11 übrigen Athener Kooperativen können für beide Seiten faire Preise ausgehandelt werden, die an die Konsumenten weitergegeben werden. Die Produkte werden nicht in Kommission genommen, sondern vom Projekt gekauft, das Risiko des Weiterverkaufs liegt bei ihnen selbst.
Neben der persönlichen Beziehung zu den Produzenten ist ihnen auch der Kontakt zu den Konsumenten wichtig, deshalb veranstalten sie z.B. Versammlungen, bei denen über die Projektidee informiert wird und durch die sie versuchen, ein bewussteres und nachhaltigeres Konsumentenbewusstsein zu schaffen, jenseits von Brands und Labelings. Im letzten Jahr konnte erreicht werden, dass 5.000 Tonnen Lebensmittel statt im Müll zu landen an Bedürftige verteilt werden.
Ziel des Projekts ist es, v.a. griechische Produkte zu unterstützen und zu vermarkten, nicht, weil sie gegen internationalen Handel seien, sondern vor dem Hintergrund, dass in den letzten 30 Jahren die griechische Agrarwirtschaft systematisch zerstört wurde, verstärkt in den letzten 6 Jahren.
1975-85 (vor Eintritt in die damalige EG) seien die Lebensmittel in den Supermärkten noch zu 85% aus einheimischer Produktion gekommen, heute sei das Verhältnis umgekehrt und über 80% der Lebensmittel würden importiert, eine Subsistenz durch einheimische Agrarwirtschaft sei somit unmöglich geworden. Weil bei unserem Treffen mit einem Vertreter von „Solidarity for all“ als aktueller politischer Fokus ebenfalls die Stärkung der materiellen Produktion in Griechenland genannt wurde fragen wir nach der politischen Verbindung. Sie arbeiten im Netzwerk mit, geben u.a. auch einen Teil ihrer Produkte an die Initiativen, die z.B. vor Lebensmittelmärkten Essensspenden für Bedürftige sammeln. Im Laden steht ein Korb, in den Kunden einen Teil ihres Einkaufs fuer diesen Zweck abgeben können.
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gibt es in Griechenland nicht, Tonia und Jorgos wissen lediglich von langjährigen Kooperativen auf der Peleponnes, die aber „bürokratisiert“ seien. Hier werden deren Mitglieder aber offenbar nicht nur bei der Distribution ihrer Produkte, sondern auch in der Produktion unterstützt, indem z.B. durch die Vergabe günstiger Kredite durch eine eigene Kasse Unabhängigkeit von den Banken ermöglicht wird.
Tonia berichtet von Versuchen der PASOK im Jahr 2010-11, die Agrarwirtschaft zu stärken, indem sie Arbeitslosen 10 Ha Land zur Bearbeitung zur Verfügung stellten. Dies sei aber aufgrund mangelnder Schulung und finanzieller Unterstützung nicht erfolgreich gewesen. In der Landwirtschaft seien zudem migrantische SaisonarbeiterInnen – v.a. aus Bangladesch und Somalia – billiger.
Uns wird deutlich, dass die Idee von „Markt ohne Zwischenhandel“ noch in den allerersten Anfängen steckt, kaum institutionalisiert ist sondern derzeit v.a. auf persönlichen Beziehungen beruht. Sie ist in der Bevölkerung nicht sehr bekannt und weit davon entfernt, die materiellen Grundbedürfnisse größerer Bevölkerungsteile abdecken zu können. Die Stadtflucht ist auch in Griechenland schon vor längerer Zeit erfolgt, eine umgekehrte Bewegung ist derzeit nicht zu erwarten. Erst in diesem Sommer ist ein großer Teil der Kirschenernte in Griechenland mangels „human ressources“ verkommen.
Zur Unterstützung des Aufbaus übergaben wir eine Spende von 500€.