Kongressbericht: Arbeiter*innen selbstverwalteter Betriebe diskutieren in Thessaloniki.
Am zweiten Tag der Euromediterranean „Workers Economy“ Konferenz fanden sich mit über 250 Besucher_innen deutlich mehr Leute als am Vortag in der Haupthalle des selbstverwalteten Betriebs Vio.Me ein. Im Unterschied zum ersten Tag wurden verschiedene Fragen der Selbstverwaltung konkreter diskutiert. So erläuterten Vertreter_innen des Sozialen Zentrums „Micropolis“ aus Thessaloniki, welche Schwierigkeiten sich beim Aufbau einer sozialen, auf Solidarität beruhenden, Ökonomie auftun. Hier wurde deutlich, welche Zusammenhänge und Ähnlichkeiten zwischen einer selbstverwalteten Kooperative und der Organisierung sozialer Bewegungen bestehen. Dazu werden wir in den nächsten Tagen noch einmal ausführlicher berichten.
Eine Vertreterin des „Women‘s Economy Committee of Rojava“ sprach während einer Video-Liveschaltung über die Situation der Selbstverwaltung im syrischen Kanton Rojava und die konkrete Umsetzung einer auf den Prinzipien von Basisdemokratie und Ökologie basierenden Wirtschaft für eine ganzen Region. Mit den Worten: „We would be more than happy to have you here.“ – Wir würden uns sehr freuen euch hier zu sehen – beendete sie ihren Beitrag. Diese Einladung wurde mit langem Beifall beantwortet.
Lebendige Diskussionen entwickelten sich ebenfalls zu den Schwierigkeiten der antagonistischen Selbstverwaltung von Arbeiter_innen und wie selbstverwaltete Betriebe unsere gesellschaftlichen Beziehungen verändern können. Welche Rolle fällt den Projekten zu, um die Prozesse zur gesellschaftlichen Veränderung voranzutreiben? Wie können die Betriebe in die lokalen und globalen Strukturen integriert werden? Müssen sich alle vernetzen oder doch in autonomen Zellen agieren? Alle Beteiligten sind mit diesen Fragen konfrontiert und versuchen für sich Wege zu finden, diese Herausforderungen zu lösen.
Von der etwas gehemmten Atmosphäre des ersten Tages ist nichts mehr zu spüren, was sicherlich auch ein Ergebnis der gemeinsamen Abendveranstaltung mit traditioneller griechischer Rembetikomusik ist. Viele Teilnehmer_innen bringen sich in die Diskussionen ein, es werden Kontakte getauscht und gemeinsame Veranstaltungen vereinbart. Auch wir nutzen die Gelegenheit, um vieles über praktische Problemlösungen beim Aufbau von Gegenmacht zu lernen. Das Fabrikgelände von Vio.Me ist nicht mehr nur der Arbeitsplatz der Arbeiter_innen von hier, sondern
gerade ein Schmelzofen verschiedenster Ideen, Träume und Hoffnungen. Die Menschen vom Kongress bewegen sich durch die Hallen, als seien es die Ihren – und das stimmt sogar… durch die unglaubliche Gastfreundschaft der solidarischen Arbeiter_Innen von Vio.ME.
Auf der Abschlussveranstaltung des 1. Tages berichtete ein mexikanischer Lehrer der CNTE über die Situation und die Kämpfe dort. Seit Monaten wehren sich die Lehrer_innen und ihre Unterstützer_innen gegen eine neue Bildungsreform. Da uns sein Vortrag sehr beeindruckt hatte, verabredeten wir uns zu einem längeren Interview mit ihm, das wir in den nächsten Tagen nachreichen werden.
Nach dem morgendlichen Kaffee ging es auch am dritten Tag direkt in die Debatte. Im ersten Panel diskutierten verschiedene Vertreter_innen von Initiativen der Selbstverwaltung öffentlicher Einrichtungen und Dienstleistungen aus Frankreich, Spanien und Griechenland die Schwierigkeiten beim Vertrauensaufbau selbstorganisierter gemeinschaftlicher Daseinsfürsorge. Gerade in Griechenland ist das Thema der Privatisierung gerade hochaktuell, denn erst Ende September beschloss die sozialdemokratische Syriza entgegen ihrer Wahlversprechungen den Verkauf der öffentlichen Wasserwerke.
Auch ein Arbeiter des ehemals besetzten Radiosenders ERT3 schilderte seine Erfahrungen mit der aktuellen Regierung. Trotz großspuriger Ankündigungen beendete Syriza die Selbstorganisierung der Medienanstalt sehr abrupt. Heute existiert der Sender zwar wieder, wurde aber zum Regionalsender degradiert. Auch die alte hierarchische Firmenleitung wurde wieder eingesetzt und die Programmgestaltung unterliegt wieder einigen wenigen. Neben weiteren Workshops zur Nachhaltigkeit selbstverwalteter Betriebe und einer abschließenden Vollversammlung aller anwesenden Betriebskollektive bildete ein kleinerer Workshop zur Zukunft der Arbeit den Abschluss. Brick Lanes Debates, ein loser Zusammenschluss aus London, führte anhand der Frage, welche sozialen und technologischen Entwicklungen unsere Wahrnehmungen der Arbeit verändern, durch die Debatte. In Kleingruppen diskutierten wir in eher politisch theoretischem Rahmen, was der Begriff der Arbeit für uns bedeutet. Bezeichnend für unser Verständnis von Arbeit war die anschließend gemeinsam erarbeitete Charakterisierung des Begriffs. Neben sozialer Ausgrenzung fielen Assoziationen wie Angst & Zwang nicht nur einmal. Auch das Verhältnis zur Automatisierung der Arbeit wurde in solchen Kleingruppen erläutert.
Den Abschluss der Debatte bildete ein Überblick über neue Formen der Ausbeutung in Form des von Unternehmen wie Uber, Foodora oder helpling propagierten Plattform Capitalism. Für die Zukunft müssen wir uns sicherlich vermehrt mit dieser Form der vollkommen individualisierten Ausbeutung auseinandersetzen. Einen ersten Vorgeschmack darauf bilden derzeit die Kämpfe der Taxifahrer_innen mit dem multinationalen Konzern Uber und die aktuellen Kämpfe der Zusteller_innen des europäischen „Start-Ups“ Foodora in Italien.
Abseits der Veranstaltungen hatten wir auch Zeit uns mit einem Teil der Organisator_innen über die Finanzierung des Kongresses zu unterhalten. Um die 8000 Euro wurden benötigt um dieses Zusammentreffen auf die Beine zu stellen. Die meisten Ausgaben entstanden durch Flugkostenunterstützung für die von weither angereisten Aktivist_innen aus Lateinamerika und der Türkei. Ein größerer Teil des Geldes kam von 2 Gewerkschaften, die „Solidarité“ aus Frankreich und die Gewerkschaft der selbstverwalteten Ärzte aus Griechenland. Auf eine angebotene Finanzierung durch Parteien verzichteten die Organisator_innen ganz bewusst. Auch einige der größeren Gewerkschaften aus Griechenland wurden als direkte Spendengeber abgelehnt. Ihnen wurde es allerdings freigestellt, Produkte aus der selbstverwalteten Produktion zu erwerben und dadurch den Kongress zu unterstützen. Auch die Nachbarschaftszentren und selbstorganisierten Projekte in Thessaloniki sammelten Geld und letztendlich kam durch den Verkauf von Getränken und Spenden auf dem Kongress genug Geld zusammen, um alle Kosten zu decken. Ganz ohne von irgendwem abhängig zu sein.