Tagebuch Griechenland-Reise 2013
Vier Tage vor dem Abflug nach Athen: Überlegungen zu unserer geplanten Solidaritätsreise nach Griechenland
Wir haben beschlossen, als Zeichen der Solidarität nach Griechenland zu fahren. Wir wollen uns selbst ein Bild machen von den verheerenden sozialen Zuständen. Wir wollen Kontakte vertiefen und neue aufbauen mit denjenigen, die sich seit zwei Jahren gegen die von der Troika verordneten Spardiktate zur Wehr setzen. Wir wollen ihnen zeigen, dass es auch im relativ ruhigen Deutschland KollegInnen gibt, die sie unterstützen. Nach unserer Rückkehr werden wir die (während dieses Streiks) gewonnenen Erfahrungen weitergeben – damit die Idee der grenzübergreifenden Solidarität stärker wird und sich ausbreitet, berichtete der ver.di-Gewerkschafter Rolf Becker in einem NRhZ-Artikel vom 29.8.2012.
Inzwischen fand eine zweite Solidaritätsreise nach Griechenland statt. Die Reisetagebücher der TeilnehmerInnen und Fotos dazu haben uns dankenswerterweise der Hamburger GEW-Gewerkschafter im Ruhestand Manfred Klingele und der engagierte Fotograf Andreas Hesse zugänglich gemacht.
Am 17. September, vier Tage vor dem Abflug nach Athen häufen sich in der Presse die Meldungen und Berichte aus/über Griechenland. Ich gewinne den Eindruck, dem Land steht eine Periode verschärfter sozialer und politischer Auseinandersetzungen bevor. Reisen wir zum Auftakt eines Stückes, das mit dem Sturz der jetzigen Regierung enden wird? Die vielen Kontakte und geplanten Treffen werden jedenfalls informativ und spannend angesichts der Ereignisse in dieser Woche.
Die teilweise schon vor den Sommerferien beschlossenen Sparmaßnahmen haben zu einer Welle von Streiks geführt. Im Mittelpunkt stehen die Mitglieder der Lehrergewerkschaft OLME, die einen fünftägigen Arbeitskampf führen und am Freitag beraten wollen, ob sie ihn in den nächsten Tagen fortführen werden. Welch ein Glück, dass wir in der Woche des 1. Mai in Deutschland den Athener Lehrer Nikos kennen gelernt haben. Er wurde inzwischen in die nationale Leitung von OLME gewählt und hat ein Treffen mit KollegInnen seiner Gewerkschaft in Athen für Mittwoch, den 25. September, organisiert. Ebenfalls auf seine Initiative gibt es ein Treffen mit GewerkschafterInnen aus den verschiedensten Branchen, die SYRIZA nahe stehen. Diesem Treffen messe ich eine besondere Bedeutung zu, denn SYRIZA hat die Bevölkerung zur Teilnahme an den Streiks und Demonstrationen aufgerufen mit dem Ziel, die jetzige Regierung zu stürzen und Neuwahlen einzuleiten. Das erscheint mir nicht unrealistisch zu sein. Die beiden Regierungsparteien, glaubt man den Pressemeldungen und Kommentaren, befürchten angesichts weiterer Sparmaßnahmen – und der Proteste dagegen – eine Erosion in den eigenen Reihen.
Am Sonntagvormittag treffen wir uns mit unseren UnterstützerInnen und DolmetscherInnen um die konkrete Planung der Besuchswoche vorzunehmen. Zu den bereits verabredeten Terminen werden sicherlich eine Reihe kurzfristiger Treffen und Auftritte hinzukommen, die sich aus den aktuellen Ereignissen und Protesten ergeben. Ein Glück, dass wir insgesamt 14 TeilnehmerInnen sind. So können wir uns notfalls aufteilen, zu wichtigen und zentralen Treffen aber auch gemeinsam und „öffentlichkeitswirksam“ auftreten.
Ein Termin, den wir schon festgelegt haben, ist der Besuch des besetzten ERT-Gebäudes, in dem der ehemals staatliche Fernseh- und Rundfunksender untergebracht war. Ich hatte erwartet/befürchtet, dass die Koalition das Gebäude durch die Polizei würde räumen lassen, nachdem die neue, abgespeckte und mit regierungskonformen Journalisten besetzte Sendeanstalt vor einem Monat gegründet wurde. Offensichtlich wollten ND und PASOK kein weiteres Öl ins Feuer gießen angesichts der breiten Solidarität mit der Besetzung und der jüngsten Proteste. Für die BesetzerInnen des ERT-Gebäudes würde ein Sturz der Regierung neue Perspektiven eröffnen für ihren Kampf um den Erhalt des Senders und für eine journalistisch unabhängige Berichterstattung, die es auch in der alten Sendeanstalt nicht gab. Zu groß war der Einfluss der alten „Systemparteien“ ND und PASOK auf die Personalplanung im Sender und die Inhalte der Programme.
Ein weiteres Treffen mit GewerkschafterInnen wird der Besuch des Arbeiterzentrums in Livadia sein. Es ist die Hauptstadt der Region, in der auch das Werk von „Aluminium of Greece“ liegt. Mit Yannis, Gewerkschaftsrepräsentant auf der Aluminiumhütte und Abgeordneter für SYRIZA im Parlament, hatten wir schon im September letzten Jahres und bei seinem Gegenbesuch viele intensive Diskussionen. Und zwei Mitglieder unserer Reisegruppe aus Darmstadt waren erst im Juni in Livadia und besuchten auch die Gedenkstätte für die Opfer der deutschen Wehrmacht in Distomo. Im Arbeiterzentrum – das ist der Zusammenschluss der regionalen Gewerkschaftverbände – werden wir neben der Erörterung der gewerkschaftspolitischen Perspektiven auch das soziale Zentrum besuchen. Es wird vom Arbeiterzentrum geführt und bietet eine Reihe von Sozialeinrichtungen wie z.B. einen sozialen Supermarkt für bedürftige Menschen und eine Kleiderkammer.
Die sozialen Selbsthilfeeinrichtungen bilden einen weiteren Schwerpunkt unserer Besuchsreise. Am Sonntagnachmittag (22.9.) werden wir das soziale Zentrum in Perama besuchen. In Perama, einem Stadtviertel von Piräus, beträgt die Arbeitslosigkeit 80 Prozent. Aber nicht nur als Brennpunkt des sozialen Elends infolge der kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzkrise ist der Besuch für mich besonders wichtig. In Perama haben am Freitag letzter Woche die faschistischen Schlägertrupps der “Goldenen Morgenröte” eine Gruppe der KKE-Jugend beim Kleben von Plakaten überfallen und etliche verletzt. Christos, den wir bereits im September letzten Jahres als einen der Organisatoren des Selbsthilfenetzwerkes „solidarity for all“ kennengelernt haben, wies in seiner jüngsten Mail noch einmal auf diesen aktuellen Vorfall und dessen Bedeutung hin.
Es werden bei unseren Gesprächen in Athen und in Thessaloniki – beim selbstverwalteten Betrieb VIO.ME. und in der “Gesundheitspraxis der Soldarität” – die Fragen im Mittelpunkt stehen, die sich aus den aktuellen Ereignissen ergeben. Kann die Regierungskoalition aus ND und PASOK noch durchhalten? Welche Perspektiven ergeben sich, sollten die jetzigen Proteste zu Neuwahlen und einer Regierungsbildung durch SYRIZA führen? Was bedeutet dies für die Gewerkschaften, die soziale Selbsthilfebewegung und für antirassistische und antifaschistische Initiativen? Eine Menge von Fragen, die wir sicherlich in den geplanten Treffen erörtern werden. Unsre FreundInnen aus Griechenland müssen die Antworten in ihrer gewerkschaftlichen und politischen Alltagsarbeit finden.
Eine Linksregierung in Griechenland wird meines Erachtens auf erbitterten Widerstand stoßen. Die Vertreter der “Troika” (allen voran die Bundesregierung) werden wohl nicht so leicht nachgeben, sondern den Druck dann eher noch verschärfen. Ansonsten wäre Griechenland ein Vorbild für die Bevölkerungen anderer südeuropäische Länder nach dem Motto: Ihr könnt die Spardiktate zu Fall bringen oder entschärfen, indem ihr der Linken eine parlamentarische Mehrheit verschafft. Nur wenn der Funke überspringt, also in anderen Euro-Staaten der Widerstand wächst, wird die “Troika” zur Entschärfung der Lage, zu Zugeständnissen bereit sein. Die internationale Solidarität ist im Falle eines Wahlerfolges von SYRIYA also erst recht notwendig. Die Kräfteverhältnisse in Europa lassen sich nicht allein durch die griechische Bevölkerung verändern. Leider ist es bei uns in Deutschland um diese Solidarität nicht gut bestellt. Wir können nur denen, die Interesse zeigen, über unsere Erfahrungen berichten. Ansonsten müssen wir abwarten, was nach der Bundestagswahl dem “deutschen Michel” (Steuerzahler) von der nächsten Regierung präsentiert wird. Dann wird wohl scheibchenweise die Wahrheit über die Kosten der Bankensanierung, die den WählerInnen als “Rettungspaket für Griechenland” verkauft wird, auf den Tisch kommen.
Auch innenpolitisch stände eine durch SYRIZA geführte Regierung unter erheblichem Druck. Die Rechte, insbesondere die ND und die “Goldene Morgenröte”, würden wohl alles in ihrer Macht stehende tun, um eine solche Regierung zu Fall zu bringen. Sie verfügen nicht nur über die Unterstützung finanzstarker Kapitalgruppen und deren Einfluss auf die Presse. Die Anhänger der Rechtsparteien und der Faschisten sitzen im Beamtenapparat, in der Justiz, dem Militär und der Polizei.